Winesburg, Ohio (German Edition)
Illusionswelten.
Niemand in dieser kleinen Stadt scheint wirklich am Leben zu sein, keiner ist wirklich in seinem Dasein
zu Hause. Nur der junge George Willard, den man wohl als die Hauptperson bezeichnen kann, wächst auf sich gestellt unter all diesen Phantomen zum Erwachsenen und Schriftsteller heran. Denn in der unauffälligsten Weise ist Winesburg, Ohio auch ein Entwicklungsroman, der George allerdings weder zu einer Epiphanie noch zur Reife führt, sondern zu etwas viel Einfacherem und sehr Traurigem. «Er stand im Begriff, Winesburg zu verlassen», heißt es im vorletzten Kapitel, «und in eine größere Stadt zu gehen, wo er Arbeit bei einer Zeitung zu bekommen hoffte, und er fühlte sich erwachsen. Die Stimmung, die von ihm Besitz ergriffen hatte, war Männern bekannt, Jungen dagegen nicht. Er fühlte sich alt und ein wenig müde.» Und dann, kurz bevor er Winesburg für immer den Rücken kehrt, entsteht vor George eine flüchtige Vision seiner Heimatstadt: «Ist er ein phantasievoller Junge, wird eine Tür aufgestoßen, und zum ersten Mal blickt er auf die Welt und sieht, als marschierten sie in einer Prozession an ihm vorüber, die zahllosen Männergestalten, die vor seiner Zeit aus dem Nichts in die Welt getreten sind, ihr Leben gelebt haben und wieder im Nichts verschwunden sind. Die Traurigkeit der Erfahrenheit hat den Jungen erreicht.
Am Anfang also ein alter Mann, der begreift, wie das Leben jeden zur Karikatur macht, am Schluss ein junger Mann, der sich an die lange schon ins Nichts verschwundenen Menschen seiner Kindheit erinnert. Winesburg, Ohio gehört wie Prousts Suche nach der verlorenen Zeit oder Nabokovs Die Gabe in die Reihe jener Bücher, die sich gewissermaßen selbst erzeugen,
indem sie eine Figur bis an den Punkt führen, da sie durch eine plötzliche Explosion der Erkenntnis imstande ist, ebenjenes Werk zu verfassen, das wir gerade lesen. Auch George Willard, so wird uns zu vermuten nahegelegt, wird einst wie sein Autor ein Buch schreiben, und es wird die Kleinstadt seiner Herkunft in ihrer eigentümlichen Tragik, Leere und Verlassenheit zeigen.
Einstweilen aber beendet Georges Abreise ins sogenannte reale Leben, also in die Welt der menschlichen Verwicklungen und Schicksale, in die Welt der Großstadt, eines der schönsten und melancholischsten Werke der amerikanischen Literatur. Amerika, schrieb George Steiner viele Jahrzehnte später, sei nahe seiner Mitte das traurigste Land der Erde. Es ist diese Traurigkeit einer gottgläubigen und zugleich gottverlassenen Provinz, einer ewigen Gegenwart ohne Geschichte oder Hoffnung, von der Sherwood Andersons schmales und perfektes Buch erzählt.
Daniel Kehlmann
EDITORISCHE NOTIZ
Winesburg, Ohio ist ein sprödes Werk, sprachlich passend zu seinen ungewöhnlichen, schweigsamen oder um Worte ringenden Akteuren – ein Werk der Abweichung. Sherwood Anderson verzichtet im Englischen vielfach auf geläufige Idiomatik und üblichen Satzbau oder wählt ungewöhnliche, teilweise veraltete Vokabeln. In Sätze von karger Schlichtheit und Klarheit mischen sich abstrakte, expressive Bilder. Betont künstliche Dialoge stehen neben solchen, die der Straße abgelauscht scheinen. Oft wiederholt Anderson Wendungen oder einzelne Wörter über mehrere Sätze hinweg. Die Nähe zum Duktus der Bibel ist über weite Strecken unverkennbar.
Insofern ist die Sprache von Winesburg, Ohio gleichermaßen schmucklos und hochartifiziell, archaisch und modern, zwischen Tradition und Aufbruch angesiedelt wie die Menschen von Winesburg. Diese Spannung zu halten war erklärtes Ziel bei der Übersetzung, die der für jede werkgetreue Übertragung geltenden Regel folgt: nicht der Versuchung zu erliegen, den Text gefälliger oder raffinierter zu gestalten als das Original. So behält die Übersetzung auch für den «Anderson-Sound» konstitutive Wiederholungen bei, soweit es im Deutschen möglich ist.
Unsere Übersetzung folgt der bei B. W. Huebsch in New York erschienenen Erstausgabe von 1919. Inkonsequenzen bei der Schreibung der Eigennamen wurden stillschweigend verbessert. Das Register mit Titeln und Akteuren der einzelnen Geschichten – vergleichbar der Dramatis Personae eines Bühnenstücks – wurde dem Buch wie in der Erstausgabe vorangestellt. Auch die Karte der Stadt Winesburg auf Seite 5, gezeichnet von Harald Toksvig, entstammt der Ausgabe von 1919. Die dazugehörige Legende wurde für den deutschsprachigen Leser angepasst.
Titel der amerikanischen
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