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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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halten.»
    Nachdem George sein Geld gezählt hatte, schaute er aus dem Fenster und sah zu seiner Überraschung, dass der Zug noch immer in Winesburg stand.
    Der junge Mann, der seine Stadt verließ, um dem Abenteuer des Lebens zu begegnen, begann nun nachzudenken, doch es war nichts sehr Großartiges oder Dramatisches. Dinge wie der Tod seiner Mutter, seine Abreise aus Winesburg, die Ungewissheit über sein künftiges Leben in der Großstadt, die ernsteren und bedeutenderen Fragen seines Lebens kamen ihm nicht in den Sinn.
    Er dachte an Kleinigkeiten – wie Turk Smollet vormittags Bretter durch die Hauptstraße seiner Stadt schob, an eine große Frau in einem schönen Kleid, die einmal im Hotel seines Vaters übernachtet hatte, an Butch Wheeler, den Lampenanzünder von Winesburg,
wie er, die Fackel in der Hand, an einem Sommerabend durch die Straßen lief, an Helen White, wie sie im Winesburger Postamt am Fenster stand und eine Briefmarke auf einen Umschlag klebte.
    Die Gedanken des jungen Mannes wurden von seiner wachsenden Leidenschaft für Träume fortgerissen. Wer ihn sah, hätte ihn nicht für besonders schlau gehalten. In der Erinnerung an die Kleinigkeiten, die ihn beschäftigten, schloss er die Augen und lehnte sich auf dem Sitz zurück. So verharrte er lange Zeit, und als er sich aufsetzte und wieder aus dem Fenster schaute, war die Stadt Winesburg verschwunden, und sein Leben dort war zu einem bloßen Untergrund geworden, um darauf die Träume seines Mannseins zu malen.

NACHWORT
Die Geisterstadt
    Auf den ersten Blick gehört Winesburg, Ohio in die Tradition des realistischen amerikanischen Erzählens – ein Vorläufer von Raymond Carver, vielleicht auch ein Äquivalent zu Edward Hoppers in den Popkanon eingegangenen Bildern von Verlassenheit und traurig leerer Provinz. In Wahrheit aber hat dieses eigentümliche Buch, das weder Roman ist noch Erzählband, viel von den Surrealisten, von Gertrude Stein und den Modernisten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Man vergisst in Europa leicht, dass es neben der realistischen Schule, die so gierig von den Creative-Writing -Instituten aufgesogen wurde, noch jene des halluzinogenen Flirrens gibt, jene der Träumer und Verrückten, in die Kerouac, Burroughs, Norman Mailer und in unseren Tagen Denis Johnson gehören. Wie bei Johnson lernen wir bei Anderson ein Amerika des Wahns kennen, ein weites Land voll Verwirrung, Einsamkeit und sehnsüchtigen Philosophierens. Man kann es auch nüchterner formulieren: Winesburg, eine Kleinstadt voll Verrückter.
    Sherwood Anderson wurde 1876 in Camden im Bundesstaat Ohio geboren und wuchs im Städtchen Clyde in ärmsten Verhältnissen auf. Er arbeitete zunächst als
Zeitungsjunge, Tagelöhner und Stallarbeiter, später als Soldat und Werbetexter, dann als Unternehmer, der seine Versandfirma für Dachlacke, die «Anderson Manufacturing Company» zu mäßigem Erfolg führte. Er heiratete viermal, hatte drei Kinder und begann nebenbei und, wie so mancher Unternehmer, heimlich mit dem Schreiben. Er veröffentlichte Romane, Gedichtbände und Erzählsammlungen, aber sein Ruhm ruht bis heute auf einem schmalen Klassiker: Winesburg, Ohio , veröffentlicht 1919. Im Jahr 1941 verstarb Anderson auf einer Schiffsreise nach Südamerika: Er hatte das Hölzchen verschluckt, das in der Olive seines Martinis steckte, und sich so die Magenwand perforiert. Ein Jahr später wurden aus dem Nachlass seine Memoiren veröffentlicht.
    «Es waren die Wahrheiten», heißt es an einer viel zitierten Stelle von Winesburg, Ohio , «die die Leute zu grotesken Gestalten machten. Der alte Mann hatte dazu eine ziemlich ausgefeilte Theorie. Seiner Vorstellung nach wurde einer in dem Augenblick, in dem er eine der Wahrheiten für sich in Anspruch nahm, sie seine Wahrheit nannte und versuchte, danach zu leben, grotesk und die Wahrheit, die er sich zu eigen gemacht hatte, wurde unwahr.» Es ist naheliegend, diese gleich am Anfang stehenden Sätze als programmatisch zu lesen, und viele Kommentatoren haben es getan, aber es könnte eine Falle sein. Denn so überzeugend Andersons Theorie des Grotesken ist, soviel man der Idee auch abgewinnen kann, dass jeder Mensch sich ein Prinzip sucht, das er mit fortschreitendem Lebensalter über alles andere stellt und eben dadurch zu
etwas Lebensfeindlichem macht, das seine Entwicklung hemmt und seine Freiheit blockiert, sowenig ist diese Idee doch der Schlüssel zum Buch. Denn Winesburg, das einen mehr an Juan Rulfos von

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