Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
ebenso wie für Jungen. Er war ein Verfechter des Lernens mithilfe von Rollenspielen im Gegensatz zum reinen Auswendiglernen, erfand das illustrierte Kinderbuch und schrieb einen Aufsatz über Sprache, der später angeblich an der Universität Harvard von Studenten, die von amerikanischen Ureinwohnern abstammten, verwendet wurde. Nachdem er mit angesehen hatte, wie sein mühsam zusammengestelltes Wörterbuch der tschechischen Sprache von fremden Bauern
verbrannt wurde, plädierte er für die Einführung einer Universalsprache, welche dazu beitragen sollte, die Menschheit zusammenzuführen. Seiner Ansicht nach sollten zivilisierte Menschen es nicht dulden, dass allein die Sprache sie trennte. In den letzten Jahren seines Lebens in Amsterdam klagte er darüber, dass es ihm nicht möglich war, in seine Heimat zurückzukehren: »Mein ganzes Leben ist lediglich der Besuch eines Gastes.« 5 Auch wenn religiöse Märtyrer und Feldherren in meinem ganz persönlichen Pantheon ihren Platz haben, so ist Komenský der frühe Denker, den ich am meisten bewundere.
Ö stlich der tschechischen Landen liegt die Slowakei, Heimat ebenfalls slawischer Landsleute, deren Geschichte eng mit der der Tschechen verbunden ist. Die beiden Völker waren einst im Großmährischen Reich vereint gewesen, das im neunten Jahrhundert lose über einen großen Teil Mitteleuropas geherrscht hatte. Nach 80 Jahren brach das Reich unter der Invasion der Magyaren zusammen, einer Dynastie, die das Königreich Ungarn gründete und während des größten Teils des folgenden Jahrtausends über die Slowaken herrschte. Trotz der politischen Trennung reisten Tschechen und Slowaken hin und her, zur Verkündigung des Evangeliums, zum Zweck des Handels und der Lehre.
Die Hauptstadt der Slowakei Bratislava liegt am Ufer der Donau, gut 400 Kilometer von Prag entfernt. Das hügelige Land hat prächtige Berggipfel und dichte Wälder, Seen aus der Eiszeit und einen nährstoffreichen Boden vorzuweisen. Die malerische Landschaft war die Kulisse für Tausende von Volksliedern und -tänzen, Sagen und die wahre Geschichte von einem Abenteurer aus dem 18. Jahrhundert namens Juro Jánošík, der aus dem kaiserlichen Heer desertierte und eine Räuberbande gründete. Jánošíks Straßenräuber schlugen in einem Wald ihr Lager auf, freundeten sich mit einem lokalen Priester an und plünderten nur die Reichen aus. Ihre Beute teilten sie hingegen mit den Armen. Der Eifer dieses slowakischen Robin Hood für soziale Gerechtigkeit war ein Vorbote für die kommenden Ereignisse, denn Mitteleuropa hatte die Schwelle zu einem umfassenden sozialen Wandel erreicht.
K aiser Joseph II., der von 1780 bis 1790 als böhmischer König regierte, hielt sich für einen aufgeklärten und guten Menschen. Er ließ Essensgaben und Arzneimittel an die Bedürftigen verteilen, gründete Krankenhäuser, Pflegeanstalten und Waisenhäuser und legte öffentliche Parks und Gärten an. Per Dekret erkannte er »die Schädlichkeit des Gewissenszwangs« an und verordnete, dass künftig kein Mensch gezwungen werden soll, die Staatsreligion anzunehmen. Dieses Toleranzpatent bedeutete, dass es den Tschechen nach 150 Jahren wiederum frei stand, den protestantischen und orthodoxen Glauben zu praktizieren. Ferner trachtete Joseph danach, die jüdische Gemeinde Böhmens (damals weltweit die größte) zu integrieren, indem er Beschränkungen für ihre Erwerbstätigkeit aufhob, Sondersteuern abschaffte und den Gebrauch der deutschen Sprache bei der Schulbildung obligatorisch machte. Diese Veränderungen, welche die Juden verstärkt mit der deutschen Sprache und Kultur in Kontakt brachten, wurden von einigen abgelehnt, von anderen aber als Möglichkeit begrüßt, ihre Partizipation in der Gesellschaft auszudehnen.
In der vorindustriellen Ära führten die meisten Tschechen immer noch ein bäuerliches Leben, bestellten den Boden, hielten Vieh, nähten Kleidung und arbeiteten als Müller, Wildhüter, Schmied, Tischler und Schafhirte. Sie legten sich in Holzhütten schlafen, die mit religiösen Ikonen geschmückt waren. Krankheiten wurden mit gesammelten Heilkräutern oder speziellen Balsamen behandelt, die man von umherziehenden Hausierern kaufte. Angeblich linderten sie schmerzende Glieder ebenso wie Zahnweh. In der Regel hatten die Männer Schnurrbärte, trugen Pluderhosen samt Schnupftabaksdose und rauchten Pfeife. Die Frauen mit ihren Schürzen plagten sich beim Backen, Waschen und Sammeln der Lebensmittel ab.
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