Nacht der gefangenen Träume
1. Kapitel
Wie ein feuchter Kieselstein
»Du darfst mit nichts zu Unheimlichem anfangen«, sagt Frederic.
»Mit nichts zu Unheimlichem?«, frage ich.
»Na ja, du weißt schon. Was später kommt.«
»Du meinst – als du im Nebel die Orientierung verloren hast? Als du beinahe in den Schacht gefallen bist, dessen Boden man nicht sehen konnte? Und als ihr dann in einer Nacht all diese unglaublichen Sachen entdeckt habt?«
»Ja, genau. Wenn du damit anfängst, will keiner das Buch lesen. Dann glauben alle, es wäre ein Buch voller Blutrunst und …«
»Blut-Runst?«
»Na, ich dachte, das ist das Hauptwort zu blutrünstig. Alle glauben, es wäre blutrünstig, obwohl ja gar kein Blut vorkommt.«
»Aber am ersten Tag, als die Geschichte begonnen hat und als du in der Klassenarbeit plötzlich …«
»Pssst! Das darfst du noch nicht verraten! Die Geschichte hat doch noch gar nicht begonnen. Sie beginnt erst.«
»Ach so. Und mit was soll ich denn nun beginnen?«
»Beginne mit … etwas Schönem.« Frederic überlegt eine Weile. Wenn er überlegt, kaut er immer auf seiner Unterlippe herum. »Beginne mit … den Bäumen. Den Bäumen an der Schulhofmauer. Die sind schön. Wenn das Herbstlicht auf ihre Blätter fällt und der Wind in ihnen knispert.«
»Knispert? Was bedeutet ›knispert‹?«
Er zuckt mit den Schultern. »Das, was der Wind in den Herbstblättern tut. Fängst du jetzt an oder nicht?«
Frederic erfindet gerne Worte. Er erfindet ständig alles Mögliche.
Ich aber bin nicht hier, um Dinge zu erfinden. Ich bin hier, um Frederics Geschichte aufzuschreiben. Er hat mich darum gebeten, und es ist höchste Zeit, denn er wird langsam ungeduldig.
Die Bäume waren schön. Sie standen entlang der grauen Schulhofmauer und reckten ihre weisen, alten Äste in den Himmel, als wollten sie das Licht dort einfangen. Sie standen schon immer da, und sie wussten alles: die Ulmen, die Linden, die Eichen. Und mitten auf dem Hof: eine Kastanie.
Aber wie Bäume eben so sind, behielten sie für sich, was sie wussten.
Das Schulgebäude war so alt wie die Bäume. Von drinnen wurde es ab und zu ohne rechte Liebe renoviert, hochdruckgereinigt, unterdruckentschimmelt und mit neuen Bildern in Siebdrucktechnik behängt. Draußen jedoch war seit Jahren alles beim Alten geblieben. Das Eingangsportal von St. Isaac litt unter einer leichten barocken Überengelung. Der Putz blätterte an einigen Stellen ab, sodass man hoffen konnte, auch die pausbäckigen Engelchen würden eines Tages abfallen. Niemand hatte sich in den letzten hundert Jahren die Mühe gemacht, etwas an der Fassade des altehrwürdigen Bauwerks zu verändern: Man pflegte seine Altehrwürdigkeit.
Direkt neben dem Schulhof stand noch ein zweites altes Gebäude, doch dessen Alter hatte nichts Ehrwürdiges an sich. In seinem ziegellosen Dachstuhl wuchsen Birken und viele seiner Wände neigten sich bedenklich. Das war das Abrisshaus. Es hieß so, weil die Erwachsenen ständig sagten, es müsste abgerissen werden. Eines Tages, sagten sie, würde es wohl von selbst umfallen, aber es wäre doch ein Schandfleck, nicht wahr, neben der altehrwürdigen Schule, und man sollte es beseitigen …
Die Kinder jedoch sprachen nur hinter vorgehaltener Hand über das Abrisshaus. Etwas daran war nicht geheuer. Kinder spüren so etwas.
Nachts flogen Eulen durch die zerbrochenen Fensteraugen des Hauses, und tags gingen die wilden Katzen der Gegend dort ein und aus. Der Wind heulte in den Ecken der verlassenen Räume wie ein verletzter Hund. Manche der Kinder schworen, sie hätten tatsächlich einmal einen Hund auf der Türschwelle sitzen sehen. In Wirklichkeit war keines von ihnen je dort gewesen. Es gab viele Gerüchte in St. Isaac, nicht nur über Hunde. Vor allem gab es Gerüchte über einen bösen, alten Mann, der im Abrisshaus gewohnt hatte und jetzt noch immer dort herumschlich, obwohl er schon lange tot war – Gerüchte darüber, er hätte sich in eine Eule verwandelt oder in eine streunende Katze oder vielleicht auch in den Wind. Später werden wir das Abrisshaus noch brauchen, daher muss es erwähnt werden. Doch später ist später. Zurück zu den Bäumen.
Früher, als das Schulgebäude neu gewesen war, hatten die Bäume eine Menge Gelächter dort unten im Hof gehört und eine Menge Streiche beobachtet. Doch vor fünfzehn Jahren hatte ein neuer Direktor die Herrschaft über St. Isaac übernommen. Und seither war es still geworden auf dem Hof. Seither war St. Isaac eine
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