Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Parlament zugeteilt, und desto mehr kommunale Beamte durften die Mitglieder wählen. Folglich wurde die Erklärung der Nationalität, die zuvor eine persönliche und freiwillige Option gewesen war, sowohl zu einem gesetzlichen Mandat als auch zu einem politischen Akt.
Für viele Familien richtete sich die Entscheidung nach einer eindeutigen ethnischen und linguistischen Affinität, aber in anderen Fällen ging es eher um die Frage, was am pragmatischsten war. Wenn es in einer Stadt nicht genügend Tschechen für eine eigene Schule gab, war es bequemer für eine Familie, sich als Deutsche zu deklarieren. Wenn eine Stadt weitgehend tschechisch war, war ein deutscher Ladenbesitzer gut beraten, seine Geschäfte in dieser Sprache abzuwickeln. Verarmte Eltern wurden von dem Angebot kostenloser Mittagessen und Schulmaterialien angelockt, als Gegenleistung dafür, dass sie ihre Kinder in die »richtigen« Schulen oder Sportvereine schickten. Schon die beliebige Kombinierbarkeit des Prozesses ist ein Indiz dafür, dass viele Familien Angehörige auf beiden Seiten der Trennlinie hatten. Mein Großvater väterlicherseits, Arnošt Körbel, ließ sich im tschechischsprachigen Zentrum des Landes nieder, einige Geschwister von ihm jedoch in deutschen Gebieten. Frühere Generationen hatten aller Wahrscheinlichkeit nach weder in Deutschland noch in Böhmen gelebt, sondern in Gebieten, die heute zu Polen gehören.
Angesichts derart komplexer Verhältnisse brachten Aktivisten ihre Forderungen umso nachdrücklicher vor. Nach ihrer Denkweise war die nationale Identität kein Bekleidungsstück, das man einkaufte, eine Zeitlang trug und wieder ablegte. Sie war der ausschlaggebende Faktor für die eigene Identität. Menschen hatten die Pflicht zu wählen und, nachdem sie sich entschieden hatten, sich anzupassen. Ein Deutscher sollte deutsche Politiker wählen, deutsche
Geschäfte unterstützen, deutsche Speisen essen, deutsche Kleider anziehen, in deutsche Vereine gehen und sein Herz einer deutschen Partnerin schenken. Der gleiche Katechismus galt für Tschechen. Damit wurde die nationale Identifizierung ins geradezu Groteske übersteigert. Manche Wortführer beanspruchten Eigenschaften für ihr Volk, die krass übertrieben waren, andere richteten ihr Augenmerk darauf, die Fehler ihrer Nachbarn hochzuspielen. Wieder andere ärgerten sich über Familien (verächtlich »Hermaphroditen« genannt), die es versäumten, sich für eine Seite zu entscheiden, oder noch schlimmer, die falsche wählten. In einem Leitartikel einer tschechischen Zeitung von 1910 hieß es: »Wenn jeder einzelne Tscheche seinen Hass und seine Verachtung für die Renegaten verdoppeln könnte … würden es sich genügend Menschen noch einmal überlegen, bevor sie sich und ihre Kinder germanisieren.« 9
In dem Maße, wie sich der tschechische Nationalismus ausbreitete, verstärkte sich die Enttäuschung der Tschechen darüber, dass sie zu Österreich-Ungarn gehörten. Die Tschechen hatten Minderheitenrechte, aber das bedeutete keine politische und soziale Gleichstellung. Ob am kaiserlichen Hof in Wien oder in einer typischen böhmischen Stadt – Deutschsprachige hatten immer noch den größten Teil der führenden Stellungen inne. Die Tschechen des Jahres 1910 hielten sich für weniger frei als ihre Vorfahren anno 1610, ein Unmut, der manche veranlasste, im Ausland nach Verbündeten Ausschau zu halten. Einer Reihe von Schreibern schwebte eine Einheit aller slawischen Völker in der Zukunft vor: von den Russen im Osten bis zu den Böhmen im Westen. Das Haar in der Suppe war allerdings, dass den tschechischen Intellektuellen, die in andere slawische Länder reisten, überhaupt nicht gefiel, was sie dort sahen. Weder der polnische Adel noch die zaristischen Höfe lockten die populistischen Denker, zugleich schien der Gedanke einer panslawischen Bruderschaft weit hergeholt, nachdem sie mit anhören mussten, wie die Polen ihre russischen Nachbarn als Mongolen und Russen umgekehrt die Polen als eine Rasse rückständiger Bauern beschimpften. Unter den tschechischen Nationalisten herrschte damals Konsens, dass es für sie das Beste sei, ihre Identität innerhalb des Reiches statt außerhalb zu behaupten. Womöglich würden sich im Laufe der Zeit und
mit dem richtigen Führer die Rahmenbedingungen ändern, und man könnte die schwarz-gelben Fahnen der Habsburger durch die tschechischen Farben Rot und Weiß ersetzen, eventuell um das slowakische Blau ergänzt.
D iese
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