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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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Menschen, die vom Land in die Stadt zogen, diente die Idee der Nation als Leitstern, an dem sie sich in einer Welt orientierten, wo die alten Wegzeichen Religion und Stand an Autorität verloren.
    Auch wenn viele frühe, tschechische Nationalisten auf Deutsch schrieben, forderten sie nachdrücklich die Entwicklung der böhmischen Literatur und bejubelten die Eröffnung der tschechischen Oper, insbesondere Bedřich (Friedrich) Smetanas Libuše (Libussa) und Die verkaufte Braut . Sie plädierten ferner für ein Nationaltheater, ein Philharmonieorchester, den Turnerverband Sokol, eine Akademie der Künste und Wissenschaften, sowie im Jahr 1882 die Aufteilung der Karls-Universität in separate deutsche und tschechische Institute. Außerdem fingen sie an, darüber nachzudenken, was es denn hieß, Tscheche zu sein.
    Der führende Journalist jener Zeit Karel Havliček meinte dazu: »Ein Tscheche verlässt sich nie auf andere [sondern] … setzt sich hin, um seine Arbeit zu tun, und lässt sich durch nichts aufhalten.« 6 Havliček stellte die These auf, dass die Vernichtung des böhmischen Adels dem tschechischen Volk einen einzigartig demokratischen Charakter verliehen habe: unprätentiös, pragmatisch und tief in humanistischen Wertvorstellungen verankert. Während andere Völker in eine reiche Minderheit und die arme Mehrheit gespalten seien, wären die Tschechen egalitär, lehnten hochtrabende Titel ab und redeten ihre Landsleute als Brüder und Schwestern an. In seinen Augen war das Engagement des Volkes für anständiges und gerechtes Verhalten ein Vorzug gegenüber ganz Europa und ein willkommener Abschied von der Lästerei, die für die Nachbarstaaten so charakteristisch war. Freilich gaben die Böhmer auch zu, dass sie ebenfalls dazu neigten, jeden, der allzu hoch gestiegen war, wieder zu stürzen. »Wenn ein Tscheche eine Ziege hat«, so lautet ein Sprichwort, »dann sehnt sich sein Nachbar nicht nach einer eigenen Ziege; er wünscht sich, dass die Ziege des Nachbarn stirbt.« 7 Selbstverständlich gab es noch weitere düstere Einschätzungen des lokalen Charakters. Der deutsche Historiker und Nobelpreisträger Theodor Mommsen kommentierte finster: »Vernunft nimmt der
Schädel der Tschechen nicht an, aber für Schläge ist auch er zugänglich.« 8
    Das ganze 19. Jahrhundert hindurch wetteiferten tschechische und deutsche Nationalisten miteinander und merkten allem Anschein nach überhaupt nicht, dass sie, indem sie versuchten, die Verschiedenartigkeit der Völker nachzuweisen, ganz ähnliche Ambitionen äußerten und vergleichbare Tugenden für sich beanspruchten. Unisono und mit ähnlicher Vehemenz verlangten sie, dass Eltern ihre Kinder zu Patrioten erziehen. Božena Němcová hätte für beide Seiten sprechen können, als sie in dem Gedicht »An die tschechischen Frauen« nachdrücklich verlangte:
    Mit dem ersten zarten Kosewort,
mit dem ersten Kuss, dem süßen
wollen wir ihnen den tschechischen Wohlklang
mit glühender Vaterlandsliebe einflößen.
Tschechische Frauen, tschechische Mütter!
Wir kennen nur eine Freude:
Unsere Kinder für das ruhmreiche
teure Vaterland aufziehen.
    Solche Gemeinplätze waren nicht jedermanns Geschmack. Viele Bewohner der Region scherten sich wenig um nationale Unterschiede, die ohnehin kaum noch zu erkennen waren. Die ursprünglichen slawischen und germanischen Stämme waren längst in die Geschichte eingegangen, und ihre Nachfahren hatten jahrhundertelang auf demselben Gebiet gelebt, in deren Verlauf Mischehen gang und gäbe waren. Tschechische und deutsche Namen waren ebenso durcheinandergewürfelt wie physische Charakteristika, und viele Einwohner waren zweisprachig. Das hieß, dass die sogenannte Reinheit des Blutes in den meisten Fällen reine Illusion war, wenn auch eine verlockende.
    Ironischerweise wurde die aufkommende Rivalität zwischen Tschechen und Deutschen ausgerechnet durch den Einsatz der österreichischen Regierung für Minderheitenrechte geschürt. Um dieses Versprechen einzuhalten, mussten die Behörden genau wissen,
wer welcher Nationalität angehörte. So wurde einer fließenden und unscharfen, gesellschaftlichen Realität eine der strengsten menschlichen Erfindungen oktroyiert: die Bürokratie. Gesandte des Reiches kamen mit Formularen in jede Stadt und jedes Dorf. Die Bürger mussten sich beim Ausfüllen für das eine oder das andere Etikett entscheiden. Je größer die Gruppe war, desto mehr Schulen wurden ihr zugestanden, desto mehr Sitze im

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