Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
zurechtgekommen war«; Sir Isaiah Berlin, den in Riga geborenen Philosophen des All Souls College; George Woodcock, Secretary des Trades Union Congress. Alle drückten höflich ihre Besorgnis aus, boten aber wenig echte Hilfe an.
Inzwischen verbrachte Mervyn den größten Teil seiner Zeit damit, Briefe zu schreiben, Anrufe zu tätigen und Besuche zu machen. Seine akademische Arbeit blieb auf der Strecke. Mervyn besuchte den Privatsekretär des sowjetischen Botschafters Alexandr Soldatow, aber zu seiner Enttäuschung kamen bei dem Treffen nur politische Plattitüden heraus. Mein Vater stellte mit perverser Hartnäckigkeit wieder und wieder Anträge auf ein sowjetisches Visum; mit gleicher Hartnäckigkeit lehnten die Sowjets sie ab.
Mervyn hatte wenig Hoffnung, dass ein Visum tatsächlich durchkommen würde. Mila dagegen glaubte fest daran, eine Chance zu haben, dass ihrem eigenen Antrag auf ein sowjetisches Ausreisevisum, ein seltenes Privileg, das normalerweise nur denen gewährt wurde, die politisch absolut vertrauenswürdig waren, stattgegeben würde. Als sie am 18. August erfuhr, dass ihr Ausreiseantrag »auf höchster Ebene« abgelehnt worden war, war sie verzweifelt.
»Die letzten beiden Monate habe ich mithilfe meiner Freunde und meiner Familie in der Hoffnung gelebt, dass mein Leiden bald endet, doch gestern musste ich erfahren, dass meine Hoffnung vergeblich war«, schrieb sie auf tränennassem Papier. »Die ganze Nacht bin ich durch die Hitze gewandert, ich konnte nicht schlafen, und heute bin ich noch immer in Tränen aufgelöst, als habe man mir vor meinen Augen ein Stück meines Herzens herausgerissen. Ich bin wieder einmal in schrecklicher Verzweiflung. Ich flehe Dich an, Liebling, lass mich nicht im Stich. Ich bin dem Tode nahe.
Ich sitze zu Hause wie ein Vogel im Käfig, ich habe schlecht geschlafen, geplagt von einer schrecklichen Mischung aus Liebe und Schmerz, aber ich muss weiterleben, ich muss es ertragen, warten. Es kommt mir vor, als müsste sich mein Herz in Stücke reißen und Blut aus meinem Mund strömen, wenn ich noch eine Minute länger warten muss. Mit Dir zusammen kann ich jede Folter ertragen, doch allein ist es unerträglich schwer … Manche Menschen freuen sich: Sie lieben nichts mehr, als zu sehen, wie Blut aus den Seelen tropft, die sie mit ihren Klauen zerrissen haben. Sie glauben, sie hätten mich vor dem Feuer der Gehenna errettet. Sie halten Dich für eine Inkarnation des Teufels und sich selbst für Heilige. Klopf weiter an die Tore des Himmels, horch, und Du wirst hinter ihnen meine Stimme hören, die Dich ruft. Auch wenn der Torwächter Dich nicht einlässt, lass ihn nicht schlafen.«
Einige Tage später schien sich ihre Stimmung aufgehellt zu haben. Mila entschuldigte sich für ihre verzweifelten Briefe der vergangenen Woche. »Wenn Du nur wüsstest, wie sehr deine Entschlossenheit Sauerstoff für mich ist. Bitte, Merwusja, sag mir niemals, dass Du es aufgegeben hast, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Gib nicht auf! Der Sturm auf die Mauern ist nicht immer beim ersten Mal von Erfolg gekrönt. Ich könnte es niemals ertragen zu hören, dass Du die Hoffnung aufgegeben hast, das Vertrauen in Deine eigenen Kräfte verloren hast.«
In Moskau ging der Sommer zu Ende. Mila erntete die Kartoffeln und Gurken, die Mervyn angebaut hatte. Die Beerenzeit war gekommen, und Mila und ihre Nichten verbrachten die Tage mit Blecheimern in den Wäldern und sammelten auf den sumpfigen Lichtungen wilde Erdbeeren, Heidelbeeren und Preiselbeeren. Sascha erntete Obst, und Mila und Lenina kochten in der Küche der Datscha riesige Töpfe voller Konfitüre. Mila stellte ein paar Gläser beiseite, die sie mit Mervyn essen wollte, sobald er zurückkam.
»Bitte erzähl mir jede Einzelheit Deines Lebens, erzähl mir von dem kleinen Curryhaus im Zentrum der Stadt«, schrieb Mila an Mervyn, nach der Zeit auf dem Land ruhiger als die Monate zuvor. »All diese Dinge sind lebenswichtig für mich. In ihnen sehe ich meinen realen, lebendigen kleinen Menschen, meinen geliebten Jungen.« Am Ende des Briefes zeichnete Mila ein paar kleine Skizzen von einem Hemd, das sie nähte. »Hier ist ein lustiges Gedicht für Dich«, schrieb sie einen Tag später. »Merwusja – Glück, Merwusja – Boden, Merwusja – Freude, Für Mila – Süße … Ist Dein Zimmer warm, Deine Decke? Suchen Dich Dämonen der Versuchung heim?«
»Die Postarbeiter verlangen 7,5 Prozent, die Regierung bietet 4,5 Prozent, und
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