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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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war und nichts mit Mervyns Fall zu tun hatte. Auf dem anderen Foto war ein Mann zu sehen, den Mervyn noch nie gesehen hatte. Er erinnerte sich an Alexeis sarkastische Kommentare bezüglich der Ineffizienz des MI5 und konnte dem nur zustimmen.
    Doch zu Mervyns Überraschung lieferte der MI5 am 2. März 1966 dann schließlich doch noch. Ein Mann traf sich mit ihm am Bahnhof Charing Cross und zeigte ihm ein Foto, das eine elegante Figur mit einem breiten, attraktiven Gesicht und einer deutlich abgesetzten grauen Strähne über der Schläfe zeigte. Es war Alexei. Der Mann vom MI5 sagte Mervyn, sein Nachname sei Sunzow. Mervyn hörte den Namen zum ersten Mal, in Moskau hatte er nie gewagt, Alexei nach seinem Nachnamen zu fragen.

    In Moskau war Mervyn für Mila überall, wie der geisterhafte Mantel in Gogols eindringlicher Novelle. Am Theater sah sie einige »langhälsige, langfingerige Landsleute von Dir und wurde so traurig, so verbittert, dass ich beschloss, mir die Aufführung nicht anzusehen«, schrieb sie. »Mein Junge! Wo soll ich nur die Kraft hernehmen, so lange zu warten?«
    Milas Leben wurde allmählich durchdrungen und übernommen von Mervyns virtueller Präsenz. Sie bedeckte die Wände ihres kleinen Zimmers mit Fotos ihres Verlobten, und abends ging sie den Gogolewskiboulevard hinunter zur Metrostation Kropotkinskaja und suchte die herausströmende Menschenmenge nach Mervyn ab. »Wenn ich Dich doch nur an der Metro treffen könnte; wir würden zusammen nach Hause gehen, die Sommernachtsluft einatmen. Die Sträßchen des Arbat wären wunderschön, die Menschen freundlich, der Abend sanft. Doch jetzt scheinen mich alle ablehnend anzusehen. Die Bäume sehen alt und gelb aus – mit Dir wären sie jung und voller Leben. Ich blicke neiderfüllt den Frauen nach, auf deren Schulter die Hand eines Mannes liegt.«
    Vor den großen Anschlagtafeln neben der Metro, an denen die Zeitungen des Tages ausgehängt werden, blieb sie stehen und las Geschichten über Kämpfe zwischen Mods und Rockern am Strand von Hastings. Dann ging sie nach Hause und schrieb, um dann spät in der Nacht noch einmal hinauszugehen und ihren Brief in den Briefkasten an der Ecke Starokonjuschenny-Pereulok und Arbat zu werfen, damit er noch mit der ersten Post auf den Weg ging. Diese kleinen Rituale, die ihr Leben den Rest ihrer Zeit in Russland bestimmen sollten, bildeten ein tröstliches Muster, eine Routine, die die Ohnmacht ihrer Lage zumindest ein bisschen linderte.
    »Morgens, wenn ich aufwache, schreibe ich einen Brief, mein geliebter Junge … Ich stelle mir vor, wie Du schläfst, aufstehst, badest … Keine Briefe mehr … Das Warten ist am schlimmsten. Selbst wenn der Postbote drei am Tag brächte, wäre es nicht genug, und jetzt habe ich eine Lücke … Keine Nachricht, es ist, als sei mein Leben stehen geblieben.«

    Mervyn arbeitete den Rest des Sommers über mit Alexandr Kerenski, dem klugen Anwalt, der in den ereignisreichen Monaten zwischen Juli und Oktober 1917 Chef der Übergangsregierung des russischen Reiches war, ehe er von den Bolschewiki gestürzt wurde. Kerenski war jetzt sehr alt, ein spinnenartiger kleiner Mann mit einem dichten Schopf grauer Haare und dicken Brillengläsern. Mervyn half ihm bei seiner Forschung, die sich der Aufklärung der Ereignisse widmete, bei denen Kerenski selbst eine führende Rolle gespielt hatte. Mervyn erzählte ihm seine Geschichte. Der alte Mann äußerte sich mitfühlend, doch für ihn war Russland ein fernes und feindseliges Land, aus dem er selbst ein halbes Jahrhundert zuvor geflohen war und das er nie wieder sehen würde. Sie sprachen über die Revolution und die skrupellosen Männer, die sie an die Macht gebracht hatte.
    »Rasputin? O ja, er war sehr stark, sehr stark!«, murmelte Kerenski. »Lenin! Ich hätte ihn verhaften lassen sollen, als ich es gekonnt hätte.« Mervyn nickte in aufrichtiger Zustimmung.

    Mein Vater schrieb nun an wohlwollende Parlamentarier und Würdenträger, die ihm vielleicht bei seinem Kampf helfen könnten. Professor Leonard Schapiro von der London School of Economics gab ihm eine Liste mit Namen und Adressen, und Mervyn begann eine unermüdliche Korrespondenz, die irgendwann einen ganzen Aktenschrank füllen sollte. Er schrieb an Bertrand Russell, den Philosophen, der bei den Sowjets wegen seiner Anti-Atom-Kampagnen gut angeschrieben war; Selwyn Lloyd, den ehemaligen konservativen Außenminister, der mit seinem sowjetischen Pendant Andrei Gromyko »gut

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