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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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werden sollte.
    Als sich die Front in den ersten Oktobertagen Werchnedneprowsk näherte, saßen die im Waisenhaus und im Krankenhaus verbliebenen Kinder fest. Alle verfügbaren Transportmittel waren mobilisiert worden, und als die Bomber näher kamen, beschlossen die letzten Mitarbeiter des Waisenhauses, die Kinder auf dem einzigen noch offenen Weg zu evakuieren – über den großen Steppenfluss, der am Waisenhaus vorbeifloss. Der Leiter beschlagnahmte auf einer Kolchose zwei große Kähne, die normalerweise von Pferden am Ufer gezogen wurden. Er lud die verbliebenen 40 Kinder an Bord. Als die Dämmerung einsetzte und das Trommelfeuer der Artillerie den Himmel erleuchtete, schoben die sechs Mitarbeiter mit langen Stöcken die Kähne voller Kinder auf den Fluss hinaus, bis die Strömung sie erfasste und in die Dunkelheit davontrug.

6
    Krieg
    Stirb, aber weiche nicht.
    Josef Stalin
    Die Kähne trieben die ganze Nacht auf dem träge dahinfließenden Dnjepr. Als der Morgen anbrach, liefen sie in der Nähe eines Dorfes am Ostufer des Flusses auf Grund. Die Bauern dort hatten noch Pferde und Wagen, und der Leiter des Waisenhauses sorgte dafür, dass die Kinder damit zum nächsten Bahnhof in Saporoschje gebracht wurden. Dort, inmitten des Tumults einer Stadt, die darauf wartete, von den Deutschen überrannt zu werden, übergab Mitschnik seine Kinder in die Obhut der örtlichen Behörden. Er sah sie nicht wieder – außer ein paar wenigen, die den Krieg überlebten und, so wie Lenina, ihn als Erwachsene aus Neugier und Dankbarkeit besuchten. In Saporoschje schlossen sich die Kinder dem gewaltigen chaotischen Menschenstrom an, der auf der Flucht vor dem Vormarsch der Deutschen war.
    Ljudmilas eigene Erinnerungen an ihre Evakuierung im Chaos des Rückzugs der Roten Armee im Herbst und Winter 1941 sind eine unzusammenhängende Reihe einzelner Bilder. Sie erinnert sich, wie sie an einem hohen Fenster steht, über eine flache Landschaft blickt und beobachtet, wie in der Ferne, begleitet von grellweißen Blitzen, Bomben fallen. Durch die Bodendielen spürt sie die Erschütterungen. Sie erinnert sich, wie sie mit den anderen Waisenkindern an einem verregneten Herbsttag aufgereiht an einer matschigen Straße steht und einem endlosen Strom Soldaten auf dem Weg zur Front Becher mit Wasser reicht. Sie erinnert sich an Nächte im Wald, wie sie zitternd unter dünnen Decken der gruseligen Stille des Waldes lauschte.

    Sie waren immer unterwegs. Manche Nächte waren erfüllt von Suchscheinwerfern und Explosionen. Lenina erinnert sich, wie sie und andere Kinder eines Tages auf dem schweren Karren eines Bauern saßen. Die Kinder hielten Zweige über sich, um sich vor den über ihnen brummenden Flugzeugen zu verstecken. Das Pferd vor dem Karren war groß und schwerfällig, sein Geschirr ebenfalls mit Zweigen bedeckt. Aus irgendeinem Grund hat sich dieses Bild mehr als alle anderen in meinem Kopf festgesetzt – meine Mutter zwischen den anderen Kindern auf der Ladefläche des Karrens, hoffnungsvoll einen Zweig wie einen Talisman gegen die deutschen Flugzeuge umklammernd, ein verkrüppeltes kleines Kind, allein und verängstigt, auf dem Weg nach Osten in die weite Leere der Wolgasteppe.
    Die Kinder wurden in Etappen evakuiert, tiefer und tiefer hinein in das Hinterland Russlands. Wenn sie kein Transportmittel fanden, saßen sie manchmal tage- oder auch wochenlang fest und warteten darauf, dass sich jemand um sie kümmerte, sie in Sicherheit brachte. Irgendwo westlich von Stalingrad strandeten sie, angespült mit dem Strom aus Menschen und Maschinen, der unaufhörlich die Steppe füllte. Ljudmila verbrachte die härtesten Wintermonate in einem eingeschneiten Dorf, kaute trockene Maiskolben, die sie aus den Scheunen klaute, und prügelte sich mit den Kindern des Ortes um Essen. Im Frühjahr 1942 entsann sich jemand der kleinen Gruppe und brachte sie auf eine Kolchose näher an der Wolga. Mila erinnert sich, wie sie in den stillen, kalten Wäldern Beeren suchte und den Bauersfrauen für ein Stück Brot half, die Böden zu schrubben.

    Dann geschah ein kleines Wunder. Als die deutsche 6. Armee auf Stalingrad vorrückte, gelang es jemandem, den Kindern einen Platz auf einem amerikanischen Studebaker-Lastwagen zu organisieren, ein unglaublicher Luxus. Der Laster brachte sie in die Stadt und erreichte die Wolga nur wenige Tage vor den Deutschen. Es muss kurz nach dem 23. August 1942 gewesen sein, dem Tag, an dem Pioniere der Roten Armee die

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