Solang die Welt noch schläft (German Edition)
1. Kapitel
Berlin, November 1891, Königlich-Preußisches
Frauengefängnis Barnimstraße
Beklommen schaute sich Josefine um. Ein Bett reihte sich ans andere, insgesamt waren es dreißig an der Zahl. Die Eisenstäbe schimmerten kalt unter dem Licht der einzelnen nackten Glühbirne, die in der Mitte des Raumes von der Decke baumelte. Der Blick aus dem vergitterten Fenster verhieß nichts Besseres – ein dünner, schmutziger Vorhang verhüllte nur notdürftig die Aussicht auf brachliegende Öde, die von einer hohen Mauer eingefasst wurde.
Weiter hinten im Schlafsaal war leises Schluchzen zu hören. Jo drehte sich um und erblickte die abgezehrte Rothaarige mit dem typisch spitzen Bauch einer Schwangeren, die zeitgleich mit ihr eingeliefert worden war. Sie kauerte wie ein Häufchen Elend auf einer Pritsche am Ausgang und weinte vor sich hin. Einen Moment lang war Josefine versucht, zu dem Mädchen zu gehen und es zu trösten, überlegte es sich dann aber anders.
Sie hatte seit über achtundvierzig Stunden nicht mehr geschlafen. Ihre Augen brannten und ihr Kopf schmerzte. Ihre rechte Schulter, die sie sich bei dem Unfall verletzt hatte, war angeschwollen und tat höllisch weh. Vorsichtig hob Jo das Gelenk ein wenig an. Bewegen konnte sie die Schulter, wenigstens war nichts gebrochen.
Zögerlich ging sie auf das Bett mit der Nummer vierzehn zu, das die Gefängnisvorsteherin ihr genannt hatte. Sie schob das dünne Tuch, das als Bettdecke dienen sollte, zur Seite. Die Matratze wies unzählige Flecken auf. Als sich Josefine setzte, sackte die dünne Matratze in der Mitte zusammen, schlaff geworden von den vielen Jungmädchenkörpern, die sich Nacht für Nacht darauf in den Schlaf geweint hatten. In dem Schlafsaal war es so kalt, dass Josefines Atem als kleines Wölkchen in der Luft stehen blieb.
Hier also sollte ihr der »Hochmut« ein für alle Mal ausgetrieben werden. Josefine kämpfte mit den Tränen. Erschöpft legte sie sich auf das Bett, zog die Beine an und schlang die Arme um sich in dem hilflosen Versuch, sich gegen die Kälte zu schützen. Mit geschlossenen Augen wartete sie auf gnädigen Schlaf, doch stattdessen kamen die Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück …
Am frühen Abend hatte sie noch kurz gezögert: Sollte sie aufbrechen oder doch lieber zu Hause bleiben? Den ganzen Tag über hatte richtiges Schmuddelwetter geherrscht, der Nieselregen und nasses Herbstlaub hatten die Straßen schlüpfrig gemacht, das hatte sie mit geübtem Blick erkannt. Der Wind trug eine erste winterliche Schärfe mit sich – nicht gerade die besten Bedingungen. Dennoch hatte sich Josefine für den Aufbruch entschieden. Ein Fehler, wie sich später herausstellte.
Trotz des schlechten Wetters und obwohl es weit nach Mitternacht gewesen war, hatten Anwohner ihren Unfall beobachtet. Eilig rannten sie aus ihren Häusern in den Regen hinaus. Jemand legte eine Decke über Josefine, die andern starrten sie an wie eine fremdartige Spezies aus dem Berliner Tiergarten.
»Wat bist denn du für eene?«
»Nee, hat man so wat schon jesehen?«
»Lasst se doch liegen! Wat hat die hier verloren?«
»Die Bullen! Jemand muss die Bullen rufen!«
Die meisten waren äußerst feindselig gewesen. Nur ein alter Mann hatte zu ihr gesagt: »Da haste Jlück im Unjlück jehabt, Mädel. Hättste die janze Nacht auf der eiskalten Straße jelejen, wärste womöglich erfroren.« Er trug eine Schlafjacke und sah aus, als wäre er direkt aus dem Bett gekommen. Neben ihm stand eine ältere Frau mit einem schreienden Säugling auf dem Arm und einem sensationslüsternen Blick im Gesicht. Mit spitzen Krallen hatte sie an Jos Kittel gezupft.
»Junges Frollein – wat hamse um diese Nachtzeit hier überhaupt zu suchen? Und dann noch in diesem Aufzug! Det jeht doch nich mit rechten Dingen zu.« Ihre Stimme war schrill und anklagend. Sie war es auch, die loszog, um einen Wachtmeister herbeizuholen. Kaum eingetroffen, hatte er sie mit argwöhnischem Blick betrachtet und mit Fragen bombardiert. »Wie heißt du?« »Was ist passiert?« »Warum die Männerkleidung?«
Sie hatte ihm lediglich ihre Adresse genannt. Von irgendwoher kam ein Fuhrwerk angefahren, in der Mähne des Zugpferdes hing noch Stroh. Josefine wurde zu dem Kutscher auf den Bock gehoben. Der Wachtmeister quetschte sich neben sie. Mit letzter Kraft schaffte sie es, sich auf dem Bock zu halten und nicht hinunterzukippen. Erst da sah sie, dass die Haut an ihrer rechten Hand völlig
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