Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
16 Zentimeter kürzer werden lassen als das rechte. Als sie 15 war, mussten die Chirurgen im Botkin den Knochen brechen und Gewichte an Ljudmilas Bein hängen, damit es länger wurde.
Als sie aus der bedrückenden Stille der Krankenhausstationen wieder in das Lärmen von Saltykowka zurück durfte, stürzte sich Mila voller Inbrunst in Spiele und Gruppenaktivitäten. Sie war immer eine Anführerin, eine »Aktivistin« der Jungen Pioniere, also eine Anführerin der kommunistischen Version der Pfadfinder, mit einem besonderen Abzeichen auf der weißen Bluse, das ihren Status zeigte. »Statt Armen haben wir Stahlflügel, statt Herzen eine feurige Maschine«, verkündete ein damals beliebtes Lied, und Mila gab sich trotz ihrer Behinderung alle Mühe, dem Ideal zu entsprechen.
Lenina (links) und eine Freundin, Moskau, Ende der Vierzigerjahre.
Mila war außerdem offenherzig und nachdenklich. Beides waren gefährliche Eigenschaften, selbst in der Schule. Eines Tages kurz nach Kriegsende trug die Lehrerin während einer der obligatorischen Lesungen des Leitartikels der Pionerskaja Prawda (der Kinderausgabe der großen Parteizeitung) die neuen antiamerikanische Phrasen vor. Mila meldete sich in der vorgeschriebenen Weise der Pioniere – die Finger gerade zur Decke zeigend, Ellbogen auf dem Tisch.
»Aber die Amerikaner haben uns doch im Krieg viel geholfen, oder?«, fragte sie.
Die Lehrerin war entsetzt und schickte Mila sofort zum Direktor, der hastig eine Sitzung der druschina einberief, ein angeblich informelles Kindergericht, die Jugendvariante einer Parteikonferenz. Milas Klassenkameraden versammelten sich pflichtbewusst und erklärten, sie müsse im Politikunterricht besser aufpassen. Sie erteilten ihr einen förmlichen Verweis. Es sollte nicht das einzige Mal bleiben, dass sie mit einem heuchlerischen Gericht konfrontiert wurde.
In ihrem verkrüppelten kleinen Körper wohnte schon damals ein unbezähmbarer Wille. Später schrieb sie ihrem zukünftigen Ehemann, meinem Vater, von ihrer Weigerung, Kompromisse einzugehen und die Wirklichkeit des sowjetischen Lebens zu akzeptieren. »Ich will, dass mir das Leben die Stärke meiner Prinzipien beweist«, schrieb sie. »Ich will es, ich will es, ich will es.« In einer Welt, in der die meisten ihrer Zeitgenossen sich damit zufriedengaben, irgendwie über die Runden zu kommen, glaubte Mila, ihr Wille könne die Welt erobern. Der Dichter Jewgeni Jewtuschenko nannte den Antihelden seiner und Milas Generation »Genosse Kompromiss Kompromissowitsch«, in einer sardonischen Hommage an die Männer und Frauen, die sich mit Millionen kleiner Kompromisse durch die Heuchelei und die Enttäuschungen des sowjetischen Lebens lavierten. Mila zählte nicht zu ihnen.
Trotz ihres verkrüppelten Beines wurde Mila Klassenmeisterin im Seilspringen. In Saltiykowka organisierte sie in den Klassen Untersuchungen auf Läusebefall und Wanderungen, Liederabende und Himmel-und-Hölle-Spiele. Wenn sie ihre Schwester in der Gerzenstraße besuchte, malte sie zusammen mit den Nachbarskindern Kreidekästchen auf den Asphalt und nahm an den Himmel-und-Hölle-Meisterschaften der Straße teil. Ljudmila ging fast immer als Siegerin hervor, selbst als sie einmal mit einem eingegipsten gebrochenen Arm antrat.
Die Nachricht vom Sieg kam volltönend am 9. Mai 1945 im Radio. Lenina hörte die Bekanntgabe im Dynamo-Werk. Sie erinnert sich an die unendliche Erleichterung, die sie empfand, und eine überwältigende Müdigkeit. Ein paar Tage später marschierte ein Strom deutscher Gefangener über den Gartenring, und Lenina ging ans Ende der Gerzenstraße, um sich den Feind aus nächster Nähe anzusehen. Die Menge sah schweigend zu. Lenina fiel der starke Ledergeruch der Stiefel und Gurtbänder der deutschen Gefangenen auf. Sie marschierten geordnet und ausdruckslos. Den Gefangenen folgten demonstrativ Lastwagen, die die Straße absprühten, um die Straßen von der Verseuchung durch die faschistische Präsenz zu reinigen. Nicht einmal einer von zehn dieser Gefangenen sollte je in seine Heimat zurückkehren.
Jakow zog mit seiner Familie in eine größere, schickere Wohnung. Er hatte auf einer Reise nach Deutschland, die eigentlich zum Ziel hatte, deutsche Raketentechniklabore abzubauen und sie komplett ins Lawotschkin-Konstruktionsbüro in Moskau zu transportieren, einen Mercedes erbeutet. Der Mercedes war ein riesiges glänzendes, schwarzes Ungetüm, Kennzeichen eines schwindelerregenden Status. Jakow fuhr
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