Endlich geborgen
1. KAPITEL
Das viktorianische Farmhaus lag still in der Dunkelheit am Ende einer langen, kiesbestreuten Auffahrt. Die blaue Farbe blätterte nur an einigen Stellen des zweistöckigen Gebäudes ab, obwohl die Wände seit mindestens zwanzig Jahren keinen neuen Anstrich mehr bekommen hatten. Die Nachtluft war kühl, die Mondsichel tauchte das Dach, dem mehr als nur eine Schindel fehlte, in silbriges Licht. Ausgetreten waren die Verandastufen, und Unkraut wucherte auf dem Beet davor, das einst wohl blühende Margeriten geziert hatten.
Gabriel Sinclair stand auf der Veranda und betrachtete stirnrunzelnd die verschlossene Tür.
Es war lange her, seit er in ein Haus eingebrochen war. Fünfzehn Jahre, um genau zu sein.
Damals mit zwanzig war er mit seinen drei jüngeren Brüdern unterwegs in geheimer Mission gewesen. Gabriel hatte Wache gestanden, Callan im Fluchtwagen gewartet, der jüngste, der fünfzehnjährige Reese, hatte das offene Fens ter entdeckt, so dass Lucian, der Wagemutigste der Sinclairs - damals erst siebzehn - in Lucy Greenwoods Schlaf räum einsteigen und eines ihrer rosa Satinhöschen stehlen konnte.
Am Ende jener Nacht hatten alle acht Cheerleader der Bloomfield County High School einen ihrer Slips vermisst. Die Brüder Sinclair waren ins Büro des Sheriffs geholt und befragt worden, doch hatte man sie aus Mangel an Beweisen gehen lassen müssen, obwohl jeder im Ort gewusst hatte, dass sie die Schuldigen gewesen waren. Wer sonst hätte etwas so Ruchloses planen und sogar ausführen sollen?
Gabriel lächelte. So war es gewesen - damals.
Sein Lächeln verschwand, als er sich an die Lektion erinnerte, die die Eltern allen vier Söhnen in jener Nacht erteilt hatten. Was würde er dafür geben, sie noch einmal zu hören! Die strenge Miene seines Vaters zu sehen, der sich mit der schwieligen Zimmermannshand durch das rabenschwarze Haar gestrichen hatte, während er vor seinen Söhnen auf und ab geschritten war und die Mutter, hübsch und blond, kopfschüttelnd daneben gestanden hatte.
Verdammt, wie sehr er sie vermisste! Das leise Lachen seiner Mutter, ihre warmen Schokoladenkekse, das beifällige Nicken seines Vaters, wenn er etwas gut gemacht hatte, das Hufeisenwerfen im Hof an einem heißen Sonntagnachmittag …
Mit einem tiefen Seufzer wandte Gabriel seine Aufmerksamkeit wieder dem Nächstliegenden zu: ins Haus zu gelangen.
Er rüttelte noch einmal an dem angelaufenen Messingtürknauf, aber die Tür blieb verschlossen. Dann trat er an die Fenster. Auch sie waren verriegelt.
Verdammt.
Ich werde die Vordertür offen lassen, hatte seine Schwester Cara vorher zu ihm gesagt.
Wenn du eine Liste mit den notwendigsten Reparaturen zusammenstellen kannst und mich heute Abend in der Taverne triffst, lade ich dich am Sonntag zu einem Essen deiner Wahl ein.
Da Gabriels Junggesellenmahlzeiten größtenteils aus Fertiggerichten oder Sandwiches bestanden, die er in der Kneipe seines Bruders Reese zu sich nahm, war ihm die Aussicht auf eine selbst gekochte Mahlzeit zu verlockend erschienen, um abzulehnen.
Getrieben von dem Wunsch nach einem guten Essen ging Gabriel um das Haus herum zur Rückfront und notierte sich im Geiste, das Garagentor zu überprüfen. Er nahm nicht an, dass Mildred Witherspoon - die verstorbene Eigentümerin des Hauses - ein Auto besessen hatte, aber das Tor war gewiss reparaturbedürftig.
Hinter der Garage raschelte Mais im kühlen Nachtwind, und Gabriel hielt einen Moment inne, um dem beruhigenden Geräusch zu lauschen. Er hatte zusammen mit seinen Brüdern in den Feldern hinter dem Haus gespielt, als sie noch Kinder gewesen waren, Verstecken, Cowboy und Indianer. Mit zwölf hatte er in diesen Feldern Linda Green geküsst, die jetzt verheiratet war und Mutter von drei Kindern.
Lächelnd schüttelte Gabriel bei der Erinnerung daran den Kopf, dann stieg er die Stufen zur rückwärtigen Veranda hinauf und versuchte es mit der Tür dort. Auch sie war verschlossen und verriegelt. Seltsam.
Gabriel blickte nachdenklich drein. Mildred Witherspoon hatte offensichtlich auf ordentliche Schlösser geachtet. Was merkwürdig war, da nur wenige Menschen in Bloomfield County ihre Häuser zu verschließen pflegten. In der ruhigen Stadt gab es so gut wie keine Verbrechen, abgesehen von gelegentlichen Vergehen, wie zum Beispiel zu schnelles Fahren auf dem nahe gelegenen Highway.
Oder Wäschediebstahl, dachte Gabriel schmunzelnd.
Aber auch davor war Mildred zweifellos sicher gewesen. Als sie vor
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