Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
besessen von der Idee der Mutterschaft und was sie selbst für eine Mutter sein würde. Sie schrieb meinem künftigen Vater oft von ihren gemeinsamen ungeborenen Kindern und ihrer furchtbaren Angst, ihre Kinder so zu verlieren, wie Marta ihre verloren hatte.
»Die ganze Nacht träumte ich, ich trüge einen kleinen Jungen in meinen Armen, unseren Sohn«, schrieb Mila meinem Vater 1964. »Er war sehr sanft und zärtlich. Aber die Straße war unwegsam und lang, sie führte hinauf und hinunter und in unterirdische Labyrinthe. Es war sehr schwer, ihn zu tragen, aber ich konnte ein so wunderbares Wesen, in dem alles von Dir war, selbst seine Stimme, seine Nase, sein Haar, seine Finger, nicht zurücklassen. Aus irgendeinem Grund waren wir plötzlich am alten Gebäude der Staatlichen Universität Moskau an der Mochowajastraße. Ein alter Mann wählte die besten Kinder in einer Menschenmenge aus, und mein Junge war auch darunter. Alle waren glücklich, dass ihre Kinder ausgewählt wurden, doch ich weinte bitterlich, weil ich nicht glaubte, dass sie ihn mir wiedergeben würden.«
Mila war erfüllt vom Bedürfnis, ihre Kinder zu beschützen, noch ehe wir geboren wurden. Doch ihre Mutter Marta schien manchmal von irrationalem Hass auf ihre eigenen Kinder verzehrt zu werden. Es gab Augenblicke, wenn sie verärgert war über etwas, was Mila gesagt oder getan hatte, da fuhr sie sie an und schimpfte sie einen »Waisenhauskrüppel«. Hysterisch nannte sie ihre ältere Tochter »Judenbrut« und fluchte in der dreckigsten Gefängnissprache, über die sie verfügte. Dann wieder verfiel sie in hysterische Ausbrüche von Selbstmitleid und Zuneigung und umklammerte tränenüberströmt ihre Kinder.
Marta war in den Lagern wahnsinnig geworden, so viel wird aus ihrem Verhalten nach ihrer Rückkehr aus Kasachstan klar. Doch die allgemeine Angst vor der Psychiatrie und das Unwissen waren damals so groß, dass niemand daran dachte, sie könnte eine Behandlung brauchen. Also ertrug die Familie schweigend ihren Selbsthass und ihren Wahn. »Für uns waren Psychiater schlimmer als der NKWD«, sagt Lenina. Marta hatte immer schon einen bösartigen Zug gehabt. Das Lagerleben hatte ihren Zorn auf die Welt zu einer unkontrollierbaren Kraft gemacht. Sie, die von ihrem Vater abgelehnt worden war und ihre Schwester verlassen hatte, lehnte nun ihrerseits ihre eigenen Töchter ab. Es war, als glaubte sie, sie könne, indem sie Hass austeilte und Liebe und Hoffnung in den Menschen um sich herum auslöschte, sich irgendwie an der Welt rächen, die sie so grausam behandelt hatte. Sie schien, von einer inneren Perversität getrieben, eine Welt aus Hass um sich herum zu erschaffen.
Doch zugleich war sie zu überraschender Großzügigkeit fähig, als kämpfe sich ihr altes, besseres Selbst durch all die Bitterkeit. 1971, als ich zur Welt kam, schickte Marta Mila ein Glückwunschschreiben und teilte ihr mit, sie habe ein Bankkonto für mich eröffnet und verdiene nun Geld damit, Mittagessen für den Priester ihrer Gemeinde zu kochen. Das Geld zahlte sie auf mein Konto ein. Als sie uns 1976 besuchen kam, brachte sie das Sparbuch mit und zeigte es Ljudmila. Es war eine Art Friedensangebot, eine Wiedergutmachung für die lieblose Kindheit ihrer Tochter. Als Marta dann starb, konnte Lenina das Sparbuch nicht finden. Sie hatte Martas ukrainische Verwandte im Verdacht, es gestohlen zu haben. Aber ich stelle mir vor, wie Marta Tag für Tag am Herd stand, Koteletts briet und Suppe kochte und an das Kind in London dachte, das sie nur ein paar Wochen lang gesehen hatte, und wie sie dann zum Postamt ging und ihre Kopeken für ihren Enkel einzahlte.
Ljudmila blieben die schlimmsten Dämonen ihrer Mutter erspart, weil sie sich nur an den Wochenenden sahen. Lenina erging es weniger gut. Sie verdiente sich ein paar Rubel dazu, indem sie ihre reichlich fließende Muttermilch in einem Krankenhaus für ausgesetzte Kinder auf der anderen Seite der Gerzenstraße spendete. Dort besorgte sie Marta eine Anstellung als Köchin, sodass sie den größten Teil des Tages nicht zu Hause war. Doch abends saß sie in der Küche und murrte bösartig. Sie fragte Lenina sarkastisch, warum sie »einen Krüppel anstatt eines Generals« geheiratet hätte, und versuchte Sascha und Lenina zu überreden, einander zu verlassen. Sie flirtete offen mit Sascha und provozierte so wüste Streitereien mit ihrer Tochter. Mehrmals griff Marta Lenina mit dem Messer an, und einmal brach Lenina ihrer Mutter den
Weitere Kostenlose Bücher