Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
W IE ES BEGANN
Immer wenn man ein Abenteuer beginnt, muss man eine Grenze überschreiten, eine Grenze, die im Kopf existiert. Erst jenseits davon wird man frei für das Glück, das einem das Vorhaben bescheren kann. Die Anziehungskraft dessen, was man hinter sich lässt, und der Wunsch, sich davon zu lösen, um unbeschwert davonzugehen, lassen eine unbestimmte Sehnsucht keimen, die ihre Erfüllung aufgrund der gegensätzlichen Stimmungen zunächst nicht finden kann und die die Gefühle in einem Schwebezustand hält.
Es sollte Tage dauern, bis sich jene Bereitschaft einstellte, die nötig ist, um frei zu sein für das, was auf einen zukommt. Und doch spürte ich immer, wenn auch manchmal kaum wahrnehmbar – als unauslöschliches Grundgefühl während dieser langen Wanderung – die Sehnsucht nach meiner Familie wie eine zartschwingende Saite in mir. So war der Abschied von zu Hause eine Mischung aus bangem Nichtwollen und dem Suchen nach der Kraft, die mich über die Grenze zieht.
Am 30. April 2008, einem sonnigen Frühlingstag, verlassen mein Wanderbruder Martin und ich unsere Heimatstadt Lüneburg – circa 50 Kilometer südöstlich von Hamburg gelegen –, um unseren Marsch durch Deutschland anzutreten. Vor uns liegen knapp 1.200 Kilometer und eineinhalb Monate Ungewissheit, um am Ende Füssen am Rande der Alpen zu erreichen. Beladen mit einem Rucksack machen wir uns auf, unser Heimatland zu erkunden, und haben keine Vorstellung von dem, was uns erwartet – vor allem nicht davon, was das ständige Laufen über so viele Wochen mit uns macht.
Auch nagt der Zweifel an mir, ob Deutschland so viel hergibt, dass eine Wanderung durch dieses Land zu einem bleibenden Erlebnis wird. Kennzeichnen nicht dichte Besiedlung, Landwirtschaft und Industrie im Wesentlichen unsere Heimat: durch und durch zivilisiert, sauber, adrett, parzelliert und unaufgeregt, von tausenden Lebensadern, den Straßen und Gleisen, durchzogen? Fast 70 Prozent der Fläche werden so genutzt. Kommt da Freude auf, wenn man tagelang bei vielleicht überwiegend trübem Wetter auf betonierten Wegen durch monotone Raps-, Mais- oder sonst welche Felder läuft, öde Fichtenwälder und langweilige Dörfer quert?
Dennoch – ich wollte nicht irgendwo hinfahren oder hinfliegen. Ich wollte mit dem Rucksack auf dem Rücken aus meiner Stadt hinausmarschieren und mein Heimatland erkunden – zu Fuß und damit langsam und bewusst. Auf einem Weg, der mich nicht ablenkt, einem Weg, der die Natur mit einbezieht, der einsam ist, der mir Zeit gibt.
Wenn man dann unterwegs ist, gelingt es einem, Abstufungen in das Grau schlechter Tage zu bringen, feine Unterschiede festzustellen. Während eines monotonen Abschnitts – und davon gibt es viele in Deutschland – trägt die Hoffnung auf Besserung. Man ist überrascht, wie plötzlich ein Landstrich sich wandeln kann und dass auch innerhalb großer, landwirtschaftlich genutzter Flächen immer wieder Inseln existieren, bestehend aus traumhaften Wäldern oder buschbewachsenen Höhen mit stolzen Blicken über weites Land.
Nicht geheuer ist mir auch die Perspektive der engen Zweisamkeit bei einer derartigen Herausforderung über einen so langen Zeitraum. Martin – ein Choleriker – und ich – ein dominanter, ungeduldiger Mensch – wie soll das gehen? Wir kennen uns zwar schon über Jahre und haben auch zwei kürzere Wanderungen ohne große Probleme hinter uns gebracht. Aber so ein langer Marsch ist doch etwas anderes. Es ist ein Experiment, das hoffentlich sein gutes Ende findet.
Alleine würde ich mir diesen weiten Weg nicht zutrauen. Ich bin ein äußerst kommunikativer Mensch, der Emotionen gerne teilt. Ich brauche einfach jemanden um mich herum. Außerdem wäre die Realisierung dieses von mir so lang gehegten Traumes ohne Begleitung irgendwann in zaghaften Vorbereitungen steckengeblieben.
Sich mit den Händen abzuklatschen und damit das Unterfangen verbindlich zu machen, gemeinsam die Vorbereitungen anzugehen und von nun an sich nicht die Blöße zu geben, vor dem Wanderbruder in spe einzuknicken, das gab mir die Energie, das Projekt voranzutreiben.
Jahre habe ich gebraucht, um endlich aufzubrechen. Jetzt ist es an der Zeit, ich bin 59 Jahre alt.
„Tu es jetzt, warte nicht auf die Rente“, sagt mir meine innere Stimme. „Nimm dir eine Auszeit und mach sie dir zu eigen, schaffe, dabei alles loszulassen, um diese Grenze zu überschreiten, damit du genießen kannst, was dich erwartet.“
Und das ist es doch, was
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