Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
und wohnte bei Lenina. Sie erzählte Ljudmila, eine alte Freundin sei nun Leiterin des Instituts für Marxismus-Leninismus, das dem Studium und der Bewahrung des Erbes der Gründerväter des Kommunismus gewidmet war. Ihr Name war Jewgenija Stepanowa, und als Mila sie kontaktierte, bot sie ihr sofort eine Stelle als Nachwuchsforscherin an. Ljudmila hatte keine große Begeisterung für den Marxismus oder den Leninismus, doch die Arbeit war intellektuell und ihr Arbeitsplatz in Moskau, und so ergriff sie die Chance. Ihre Aufgabe war es, dabei zu helfen, die gesammelten Werke von Karl Marx und seinem Freund und Gönner Friedrich Engels zusammenzuführen und zu redigieren. Sie fand die umfangreichen Ergüsse der beiden Männer nervtötend. Doch das Institut hatte eine hervorragende Bibliothek, ihre Stelle gab ihr ausgiebig Gelegenheit, ihr Französisch zu üben, und sie fand ihre Kollegen intelligent und lebhaft. Häufig kamen ausländische Kommunisten und akademische Fachleute der fast schon theologischen Wissenschaft der kommunistischen Lehre zu Besuch. Ljudmila fungierte dann als Dolmetscherin und Begleiterin. Außerdem gab es eine hervorragend ausgestattete Mitarbeiterkantine im Erdgeschoss des kleinen neoklassizistischen Palastes, in dem das Institut untergebracht war. Der Palast hatte ursprünglich der Fürstin Dolgoruki gehört und war dann Sitz der Adelsversammlung, ehe er einer egalitäreren Nutzung zugeführt wurde.
»Mir sind Flügel gewachsen.« Ljudmila (ganz rechts) wartet mit ihren Moskauer Theaterfreunden am Flughafen Wnukowo auf die Ankunft des französischen Schauspielers Gérard Philipe aus Peking im Herbst 1957. Er schrieb eine Widmung in ihr Exemplar von Stendhals Le Rouge et le Noir : »Pour Lyudmila, en souvenir du soleil de Moscou«.
1995 stolperte ich zufällig über das ehemalige Institut für Marxismus und Leninismus. Mit dem Niedergang des Instituts und des Marxismus und Leninismus überhaupt war auch der alte Palast verkommen. Eine Gruppe Nachfahren des russischen Adels hatten es irgendwie geschafft, das Gebäude zurückzubekommen, doch sie hatten nicht die Mittel, es zu restaurieren. So zerfiel es nun inmitten seines überwucherten Gartens, einsam und unbedeutend.
Die neu gegründete Adelsversammlung gab einen Spendenball in der nicht mehr genutzten Turnhalle in einem der Flügel. Ich ging im alten Smoking meines Vaters, den er getragen hatte, als er 1959 als junger Diplomat Nikita Chruschtschow getroffen hatte. Die verbliebenen Vertreter der russischen Adelshäuser – diejenigen, die noch nicht emigriert waren und die Revolution, den Bürgerkrieg und die Säuberungen überlebt hatten – waren in großer Zahl erschienen und tanzten ungeschickt zu den Klängen der von einer russischen Militärkapelle gespielten Mazurkas und Wiener Walzer. D
Der Urenkel von Karl Marx, Charles Languet, besucht das Institut für Marxismus-Leninismus; Ljudmila (Mitte) dolmetscht.
och die Organisatoren suchten nach einer Vergangenheit, an die sich niemand mehr erinnerte, und versuchten, Traditionen wiederzubeleben, die nur in ihrer Fantasie weiterlebten. Fürst Golizyn, in grauen Plastikschuhen, plauderte mit Graf Lopuchin in einem abgetragenen Polyesteranzug, während ihre aufgetakelten Frauen mit venezianischen Plastikfächern wedelten.
Der Palast war einmal prachtvoll gewesen, doch Jahrzehnte aggressiver sowjetischer Philisterei hatten ihn zu einem seelenlosen Gewirr billiger Spanplattentrennwände und mit welligem Linoleum ausgelegter Flure reduziert. Die hohen Fenster zum Hof waren vor langer Zeit zugestrichen worden. Alles, was man stehlen konnte, war gestohlen worden, auch die Türgriffe und Lichtschalter.
Ich versuchte, mir meine Mutter vorzustellen, jung und voller Enthusiasmus, wie sie auf dem Weg zu ihrem ersten Vorstellungsgespräch mit der Institutsleiterin diese Korridore hinunterhumpelt. Oder meine Mutter, wie sie sich trotzig und wortreich den Boshaftigkeiten ihrer Kollegen auf der Parteisitzung stellt, auf der sie wegen ihrer Romanze mit einem Ausländer getadelt wird. Aber sie war nicht da; ich spürte keine Geister in diesem Palast, der von der Tschingbummusik der Kapelle widerhallte.
Im Frühjahr 1960 hatte Ljudmila eine Festanstellung am Institut für Marxismus-Leninismus, doch die Mühlen der Wohnungsbürokratie mahlten langsam. Sie hatte Anspruch auf eine eigene Wohnung oder, als unverheiratete Frau, eher auf ein Zimmer in einer kommunalka . Im März bekam ihre Kollegin Klawa
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