Der Sieger von Sotschi: Ein olympischer Roman (German Edition)
Die Närrischen
„Ja, bist du närrisch!“, rief der Kamerafahrer vom österreichischen Fernsehen ORF voller Begeisterung kurz vor der Ziellinie der Streif, der härtesten Skirennpiste der Alpen. Traditionell startet dieser kurz vor dem ersten Rennläufer, damit die live übertragenden Fernsehanstalten mit seinem Video ihren Zuschauern die Strecke erklären können.
Der rothaarige Nachwuchsfahrer Fabian Luchsiger aus dem schweizerischen Glarnerland hatte sich die Kamerafahrt auf seinem Smartphone angeschaut. Der Zweiundzwanzigjährige nahm in dieser Saison zum ersten Mal am alpinen Ski-Weltcup teil. Die Kamerafahrt hätte er besser nicht verfolgen sollen, denn die Sprünge und Eiskurven der schwierigen Piste hatten seine Anspannung im Rennläufer-Warteraum auf dem Berg Hahnenkamm oberhalb dem Tiroler Skiort Kitzbühel nur verstärkt. Doch für ihn ging ein Jugendtraum in Erfüllung, jetzt hier auf der Streif dabei zu sein. Die Piste hinunter nach Kitzbühel galt nicht nur als die anspruchsvollste Abfahrt im alpinen Weltcup; das Rennen war in Österreich auch einer der großen gesellschaftlichen Anlässe des Jahres, denn in den Alpenländern hatte die Sportart Ski-Alpin einen ähnlichen Stellenwert wie der Fußball.
Fabian gehörte zur „Generation der großen, schlanken, aber ungeheuer beweglichen Burschen“, wie der Schweizer „Skipapst“ Bruno Romani ihn und seine beiden besten Kumpels, das gleichaltrige Slalomgenie Florian Häusle aus dem Schwarzwald und den erst neunzehnjährigen Liechtensteiner Lausbub Justin Bend, kürzlich während eines Fernseh-Live-Kommentars genannt hatte. Im Super-G am Vortag – einer Art kurvenreich gesteckter Abfahrtslauf – hatte der schlanke, bewegliche Nachwuchs jedoch enttäuschend im hinteren Mittelfeld gelegen.
Dieser Fehlschlag war für Fabian besonders ärgerlich, da die Entscheidung, wer zu den olympischen Spielen durfte, näher rückte. Vor der Abreise nach dem russischen Sotschi würden nur noch ein Slalom und eben die Hahnenkammabfahrt hier in Kitzbühel stattfinden, ein weiterer Slalom in Schladming sowie wenige Rennen am kommenden Wochenende in Garmisch-Partenkirchen. Jede Nation würde nur vier Läufer pro olympisches Skirennen aufstellen dürfen. Ruedi Mayerhofer, der Chef des Schneeleistungssports bei Swiss-Ski
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hatte für die Alpin-Rennfahrer strenge Qualifikationsbedingungen gestellt, denn er wollte keine Exoten mit Schweizer Kreuz in Russland sehen. Mayerhofer gehörte nicht zu Fabians Team und ließ sich nur gelegentlich bei den normalen Rennläufern blicken.
Nur im Riesenslalom lag Fabian bereits unter den vier besten Schweizern, fast jedenfalls. Der viel erfahrenere Jens Chalbermatter hatte hier gleich viele Weltcup-Punkte und im Zweifel würde man Jens und nicht ihn in dieser Disziplin bei den olympischen Spielen starten lassen. Er solle sich in der ersten Saison im Weltcup nicht unerreichbare Ziele setzen, hatte ihm Teamchef Cesare Monti geraten, dennoch würde für ihn eine Olympiateilnahme schon so früh in der Karriere eine großartige Sache sein. Aber wenn er in der klassischen Abfahrt hier am Hahnenkamm nicht viel besser als am Vortag abschneiden würde, konnte er das Flugticket in den Kaukasus vergessen.
Seine Ski-Kumpels, beide auch in der ersten Saison im Alpin-Skiweltcup, hatten es da etwas leichter. Justinals Liechtensteiner trainierte zwar mit dem Schweizer Team, war jedoch nicht dessen strengen Qualifikationsbedingungen unterworfen, da sowieso nur er für sein Ländle bei den olympischen alpinen Skirennen an den Start gehen würde. Das Kontingent von vier Startberechtigten pro Rennen und Nation würde Liechtenstein also gar nicht ausschöpfen können. Justin durfte jedoch die Bedingungen von Swiss-Ski nicht zu sehr verfehlen, damit es nicht allzu peinlich würde in Sotschi, hatte ihm sein Verband mitgeteilt.
Der strohblonde deutsche Florian Häusle würde zumindest als Slalomspezialist mitfahren dürfen und war bereits für die Disziplinen Slalom und Riesenslalom vom Deutschen Olympischen Sportbund nominiert worden. Aber der Schwarzwälder, der in diesem Augenblick einige Meter von Fabian entfernt still sein autogenes Training machte, hatte vor, in mehr als nur zwei Disziplinen um olympisches Edelmetall zu kämpfen, und musste dazu ebenfalls in der bevorstehenden Abfahrt ein gutes Ergebnis erreichen.
Fabian spürte ein immer stärker werdendes Lampenfieber, während mehr und mehr der Läufer aus dem Warteraum im Starthaus
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