Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Schwester übersehen werden könnte. Sie arbeitete inzwischen als Korrektorin von Doktorarbeiten am Institut für Rechtswissenschaften, eine Stelle, die Sascha ihr besorgt hatte. Ein Bekannter von Lenina kannte den Rektor der Historischen Fakultät der Staatlichen Universität Moskau und arrangierte ein Treffen, bei dem er sich für Ljudmilas Aufnahme an der Universität einsetzen wollte. Sie hatte Glück. Der Rektor war entweder einfach gutherzig, oder er hatte selbst geheime Narben aus seinem Leben unter Stalin. Als Lenina erklärte, was ihr und ihrer Schwester seit der Verhaftung ihrer Eltern widerfahren war, brach der Mann in Tränen aus. Im September 1953 wurde Ljudmila zum Geschichtsstudium an der renommiertesten Universität der Sowjetunion zugelassen. Sie befand sich in einem riesigen neu erbauten stalinistischen Wolkenkratzer auf den Leninbergen – einem Palast sozialistischen Lernens, mit ganz Moskau zu Füßen. Als sie die Nachricht erhielt, sagt sie, »sind mir Flügel gewachsen«.
Stalins Tod brachte auch die Hoffnung, ihr Vater könnte aus dem Gulag entlassen werden. 1954 brach der MWD, die neueste Inkarnation des NKWD, sein 17-jähriges Schweigen über das Schicksal von Boris Bibikow. Auf eine erneute Anfrage seiner Mutter hin kam die knappe Antwort, Bibikow, B. L., sei 1944 in einem Gefangenenlager an Krebs gestorben. Im folgenden Jahr schrieb Sofija ein persönliches Ansuchen an Stalins Nachfolger, den neuen Generalsekretär der Partei Nikita Chruschtschow, man möge zumindest seinen Namen bereinigen. Der Brief wurde ordnungsgemäß in der Akte ihres verstorbenen Sohnes abgeheftet.
»Hochverehrter Nikita Sergejewitsch«, schrieb sie, »ich wende mich als alte Frau an Sie, als Mutter dreier Söhne, dreier Kommunisten. Nur einer ist mir geblieben [Jakow], der in den Reihen unserer glorreichen sowjetischen Armee dient. Einer [Issaak] starb an der Front im Großen Vaterländischen Krieg, als er unser Vaterland verteidigte. Der andere, Bibikow, Boris Lwowitsch, wurde 1937 als Volksfeind verhaftet und zu zehn Jahren verurteilt. Die Haft hätte 1947 enden sollen.
Nikita Sergejewitsch, mein Sohn … Ich spüre, ich bin mir sicher, dass Boris unschuldig war, dass ein Irrtum vorgelegen haben muss. Ist es nach 18 Jahren nicht möglich, die Angelegenheit zu klären und ihn zu rehabilitieren? Ich kann immer noch nicht die Wahrheit finden, wissen, was tatsächlich geschehen ist. Ich bin kein Mitglied der Partei, ich bin 80 Jahre alt, aber ich habe meine Kinder dazu erzogen, ihr Vaterland zu lieben und ihm treu zu dienen. Sie haben all ihr Wissen, ihre Gesundheit, ihr Leben für die Freude des Kommunismus gegeben, für den Frieden auf Erden, damit ihr großes Vaterland blühe … Lieber Nikita Sergejewitsch, ich bitte Sie, nehmen Sie sich der Sache als Kommunist an, und wenn mein Sohn unschuldig ist, so rehabilitieren Sie ihn. Hochachtungsvoll, Ihre Bibikowa.«
Boris Bibikows Fall wurde 1955 wiedereröffnet, während einer der ersten Wellen der sogenannten Rehabilitierungsuntersuchungen, als die Opfer der Säuberungen auf Anweisung Chruschtschows juristisch überprüft wurden. Im darauffolgenden Jahr sollte er dann Stalin in einer »Geheimrede« auf dem 20. Parteitag der KPdSU verurteilen. Die Aufgabe, Bibikows Fall und Tausende wie den seinen neu aufzurollen, war ein kolossales bürokratisches Unterfangen. Detaillierte eidesstattliche Aussagen wurden von Dutzenden Zeugen aufgenommen, die Boris Bibikow gekannt hatten. Die Akten aller, die mit dem Fall zu tun gehabt hatten, wurden eingehend durchgesehen. Ironischerweise war der Teil der Akte über die Rehabilitierungsuntersuchung dreimal so lang wie die übrigen 79 Dokumente, die notwendig waren, um ihn zu verhaften, zu verurteilen und zu töten.
Alle, die zu Boris’ angeblichen konterrevolutionären Aktivitäten befragt wurden, erklärten ihn zu einem aufrichtigen und hingebungsvollen Kommunisten.
»Ich kann ihn nur positiv beschreiben; er gab alles für die Partei und das Leben der Fabrik, und er hatte eine unglaubliche Autorität unter den Arbeitern«, erzählte Iwan Kawizki, Boris’ Stellvertreter im ChTS, den Ermittlern. »Ich weiß nichts von antisowjetischen Aktivitäten – im Gegenteil, er war ein treuer Kommunist.«
»Ich habe nie von politischen Abweichungen seinerseits gehört. Die Leute sagen, er wurde als Volksfeind verhaftet, aber keiner wusste, warum«, sagte Lew Wesselow, ein Buchhalter der Fabrik.
»Ich weiß noch, dass meine
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