Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Budapest in den Gefilden der Expat-Generation herumgetrieben, tagsüber starken Kaffee trinkend und abends Bier von amerikanischen Mädchen schnorrend. Ich versuchte halbherzig zu schreiben, was mich irgendwann als freier Reporter ins besetzte Sarajevo brachte, in einer geliehenen Splitterschutzweste und mit einem Rucksack voller leerer Notizbücher. Ich fand den Kick, den ich gesucht hatte, auf den Schützenpanzerwagen der UNO, vorbei an zerstörten Gebäuden und den herrlichen, mein Jungenherz höher schlagen lassenden Trümmern meines ersten Krieges. Ich lief unbeleuchtete Straßen voller Menschen entlang, die an einem Sommerabend spazieren gingen wie die Verdammten auf einem Stich von Gustave Doré. Ich las unter Granatfeuer Die Brüder Karamasow und stellte mir vor, mit den dunkelsten Mächten der Welt in Verbindung zu stehen. Doch dann sah ich, wie ein Kind von einem Heckenschützen erschossen wurde, als es über die Straße rannte. Die Gewalt der Kugel riss den Jungen von den Füßen und warf ihn leblos zu Boden wie ein aus einem Korb geworfenes Wäschestück. Plötzlich wurde mir angesichts meines eigenen Voyeurismus übel. Als ich nach Budapest zurückkehrte, ertrug ich die Torheiten der Boheme in den Kaffeehäusern nicht mehr und machte mich auf die Suche nach Trostloserem, Härterem.
Wenige Monate später fand ich mich auf dem regennassen Gehsteig vor einem McDonald’s im Zentrum von Belgrad wieder und zählte Kleingeld für einen Hamburger mit Pommes. Ich beschattete erfolglos einen Mann namens Željko Ražnatović alias Arkan, einen der berüchtigtsten Kriegsherren im Bosnienkrieg, der nach seiner Laufbahn als Plünderer das Leben eines Seifenopernstars führte, angefüllt mit schrankenlosem Kitsch, Fußballfanatismus und Mafiagewalt, das meiner Ansicht nach genug Stoff für eine Reportage bot. Ich folgte ihm zu den Spielen des FK Roter Stern Belgrad, nach Hause und in sein Büro, ich besuchte sein ehemaliges Maskottchen, ein Tigerjunges, das inzwischen ausgewachsen war und verdrießlich in einem Käfig im Belgrader Zoo lag. Vielleicht war das alles gutes Material, aber irgendwann hatte ich kein Geld mehr, und nichts deutete darauf hin, dass Arkan mit mir reden würde.
An der Isis in Oxford, 1958.
Vom Belgrader Presseklub aus rief ich meine Mutter in London an. Ich hatte entdeckt, dass man von dort aus kostenlos international telefonieren konnte. Sie erzählte mir, dass eine englischsprachige Zeitung in Moskau, bei der ich mich auf ihr Drängen hin einmal während einer meiner arbeitslosen Phasen des Nichtstuns in London beworben hatte, mir eine Stelle als Journalist anbot. Es war Zeit, mir einen Job zu besorgen. Zeit, nach Russland zu gehen.
Ich war schon mehrmals in Moskau gewesen: als kleiner Junge mit meiner Mutter und dann später als Jugendlicher mit meinem Vater, als er Mitte der Achtzigerjahre wieder in die Sowjetunion einreisen durfte. Es gefiel mir nie besonders. Ich hasste es, dass man in der Zweizimmerwohnung meiner Tante Lenina keinerlei Privatsphäre hatte, und die Flut selbstgerechter Ratschläge und Zurechtweisungen, zu denen sich alte russische Frauen Jüngeren gegenüber berechtigt fühlen, ärgerte mich immer. Ich fand die Gastfreundschaft überwältigend und die Überschwänglichkeit aller, denen ich begegnete, peinlich. Ältere Freundinnen meiner Großmutter wurden eingespannt, mich durch Museen und in Theater zu schleppen, und ihre halbwüchsigen Enkel erhielten den Auftrag, mit mir in die baufälligen sowjetischen Vergnügungsparks zu gehen und den Straßenmusikern am Arbat zuzuhören. Ich war schüchtern und rückständig, und die offene Bewunderung meiner jungen Gefährten für alles Westliche war mir unangenehm – umso mehr, als ich Popmusik und Discos hasste, während es für sie das Höchste zu sein schien. Mehr als alles aber fand ich Moskau schrecklich beengend, nicht zuletzt, weil ich wegen meiner westlichen Kleidung überall schamlos angestarrt wurde – jedenfalls kam es mir als verklemmter 16-Jähriger so vor.
Als ich im Sommer 1990 mit der Schule fertig war, durfte ich endlich allein nach Moskau. Über ehemalige Schüler meiner Mutter, die in der britischen Botschaft arbeiteten, bekam ich dort einen Ferienjob als Übersetzer. Wie mein Vater 40 Jahre zuvor, fand ich mich in einem Büro im einstigen Stallgebäude hinter dem alten Charitonenko-Palast wieder, wo ich stapelweise Visaanträge beförderte und gelegentlich als Vizekonsul posierte, wenn ein wütender
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