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Waechter des Labyrinths

Waechter des Labyrinths

Titel: Waechter des Labyrinths Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Adams
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PROLOG
    Kreta,
    1553 vor Christus
     
    Lange würde es nicht mehr dauern, bis die letzten Vorräte aufgebraucht waren. In der vergangenen Nacht hatte der einsetzende Schneefall eine weiße Decke über die Ebene gelegt. Der Pass war versperrt. Jetzt konnte keine Hilfe mehr kommen. Mindestens für einen Monat nicht, wahrscheinlich sogar bis zum Frühling.
    Es war vorbei.
    Vor Tagen war das Feuer ausgegangen. Es gab kein Holz mehr. Doch Pijaseme brauchte keine Fackel, um sich in den Höhlen zurechtzufinden. Obwohl sie ein natürliches Labyrinth bildeten, kannte er sie besser als jeder andere Mensch. Zweiundfünfzig Sommer hatte er hier den Göttern gedient und in den letzten zehn Jahren die Leitung des äußeren Tempels innegehabt. In dieser Zeit hatte er drei neue Stollen entdeckt und geweiht. Trotzdem tastete er sich nun mit der Hand an den Wänden vorwärts. Es war einfach beruhigend zu wissen, dass manche Dinge für immer Bestand hatten. Denn mit einem Schlag hatte sich in den letzten Jahren so vieles verändert.
    Pijaseme konnte sich noch genau an den Moment erinnern, er hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Jahrelang war die Göttin zornig gewesen. Jahrelang hatten er und die anderen Hohepriester herauszufinden versucht, was sie falsch gemacht hatten und wie sie Wiedergutmachung leisten konnten. Aber jeder hatte andere Lösungen erwogen, und die Göttin war immer zorniger geworden. Dann, als Pijaseme gerade zum großen Erntefest nach Knossos hinabsteigen wollte, war über dem nördlichen Horizont ein Licht erschienen, ein Licht so hell wie der Sonnenaufgang. Sein ganzes Leben lang hatte Pijaseme gebetet, dass die Göttin sich ihm noch zu Lebzeiten zeigen würde. Aber schnell war ihm klargeworden, dass sie im Zorn gekommen war.
    Und was für ein Zorn!
    Ihr Donnern betäubte Pijaseme tagelang. Sie ließ geschmolzene Felsen niederhageln, die auf der ganzen Insel Wälder in Brand setzten. Die Wellen, die sie schickte, waren hoch wie Berge und zerstörten ihre Flotten und Häfen. Viele Monde lang schwärzte die Göttin den Himmel und tobte mit Stürmen von unglaublicher Wucht über die Menschen hinweg. Asche war kniehoch auf die Felder gefallen und hatte ihre Ernte zerstört, Pflanzen und Viehherden getötet, sie mit Geschwüren und Lähmungen gestraft und diese grausame, endlose Hungersnot verursacht.
    Er erreichte die große Kammer. Es war heller hier als je zuvor. Das Sonnenlicht, das durch die schmale Spalte in der Decke hereinfiel, wurde durch den Schnee an den Rändern reflektiert. Eine Flocke fiel Pijaseme auf die Schläfe und lief ihm wie eine Träne die Wange hinab. Er sah, dass noch mehr Flocken langsam wie winzige Federn herabwehten. Vielleicht war es das, was die Insel brauchte: sauberen, reinen Schnee. Wenn er schmolz, würde er vielleicht die Asche der Vergangenheit fortspülen, und die Insel konnte neu erschaffen werden.
    Aber das würde Pijaseme nicht mehr erleben.
    Er hatte den Mohnsaft schon vorbereitet und schenkte ihn nun in den Kelch. Im selben Moment blies eine Windböe durch die Felsspalte wie durch ein Horn. Der Minotaur brüllte. Pijaseme schaute auf. Der Minotaur thronte über ihm, dort, wo ihn die Götter als Wächter des ältesten und heiligsten Labyrinths der Insel postiert hatten. Unzählige Handwerker und Architekten waren an diesen Ort gepilgert, um Inspiration für ihre Paläste zu sammeln. Er goss ein kleines Trankopfer in die Schale zu seinen Füßen, ehe er den Rest in einem Zug austrank. Der Saft war so bitter, dass er das Gesicht verzog. Dann ging er durch den Säulengang zum großen Thron, wo er die Bullenmaske und die gehörnte Krone aufsetzte und versuchte, die heilige Robe anzulegen. Aber sein Alter und der Hunger forderten ihren Tribut: Sie war zu schwer für ihn, er musste sie über der hohen Lehne des Throns hängen lassen.
    Allmählich begann der Mohnsaft zu wirken. Pijaseme spürte, dass die Göttin lächelte und zufrieden war mit der Art der Buße, die er für sich gewählt hatte. Er nahm das Messer und kitzelte mit der Spitze die faltige, blasse Haut auf der Innenseite seines Unterarms.
    Es war eine Zeit voller Angst gewesen. Vor allem weil sie nicht gewusst hatten, warum sich die Welt verändert hatte und was sie tun sollten. Aus allen Winkeln der Insel waren Überlebende nach Knossos gekommen und hatten Trost gesucht. Nicht nur die schrecklichen Verheerungen ängstigten sie, sondern auch die Gewissheit, dass ihre einstigen Untertanen nun durch nichts mehr davon

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