Ein Herzschlag danach
1
Die scharfe Spitze bewegte sich auf sein Auge zu wie ein Skalpell auf ein Geschwür. Erst jetzt merkte ich, dass ich das Messer hielt.
Nein, ich hielt es nicht. Ich führte es.
Wie gebannt starrten wir alle drei auf das Messer, das vor uns in der Luft schwebte. Der Junge, auf dessen Auge die Spitze gerichtet war, ließ mich abrupt los. Seine Arme fielen herab wie die einer Marionette, der die Fäden durchgeschnitten wurden.
Und auf einmal spürte ich es: das Gewicht des Messers in meinen Gedanken. Klirrend fiel das Messer auf das Straßenpflaster. Ich konnte den Blick nicht davon lösen.
Endlich hob ich den Kopf. Die beiden Jungen hatten sich bereits auf ihre Räder geschwungen, traten wild in die Pedale und versuchten, die durchdrehenden Reifen auf dem schmalen Gehweg unter Kontrolle zu bringen. Unsicher, wie in Panik, rumpelten sie über die Bordsteinkante, rasten mitten auf der Fahrbahn los, stießen zusammen, stürzten beinahe und verschwanden um die nächste Ecke.
Ich kauerte immer noch am Boden. Der Verkehrslärm von der Hauptstraße, kaum zehn Meter entfernt, dröhnte plötzlich wieder auf mich ein und übertönte das würgende Keuchen, das klang, als würde neben mir jemand mit einer Schlinge aus Stacheldraht erdrosselt. Ich sah mich um, bis ich merkte, dass es von mir selbst kam. Ich biss mir auf die Lippen, dann stand ich langsam auf.
Ein scharfer Schmerz schoss durch mein rechtes Bein und brachte mich unsanft in die Wirklichkeit zurück. Unsicher schaute ich mich um, versuchte mich zu orientieren. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass ich an der Ecke meiner Straße stand. Einer der Radfahrer war mit mir zusammengeprallt, Vorderrad und Lenkstange hatten blutige Schrammen auf meinen Schenkeln hinterlassen. Ein dünnes, blechernes Geräusch drang aus den Ohrstöpseln, die an den Kabeln um meinen Hals hingen, und meine rechte Hand umkrampfte fest den Griff der Schultasche, die sie mir hatten entreißen wollen.
Maria war nicht da, als ich nach Hause kam, und mein Vater sowieso nicht. Er würde erst in einer Woche oder so zurückkommen. Das Haus hallte hohl wie ein leerer Kühlschrank. Ich hängte die Sicherheitskette an der Haustür ein, lehnte mich gegen die Wand und atmete tief durch. Dann hinkte ich die Treppe hinauf ins obere Bad, klappte die Klobrille hoch und übergab mich, bis nichts mehr kam außer einem dünnen, graugrünen Schleimfaden. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich sie auf dem weißen Porzellan nur verschwommen sah. Ich setzte mich auf die Fliesen, zog die Knie an die Brust und versuchte, meinen Atem zu beruhigen.
Woher auch immer sie kommen mochte – ich durfte diese irre Gedankenkraft nicht mehr einsetzen, so viel war klar. Allerdings hatte ich sie auch gar nicht einsetzen wollen. Es war einfach passiert, so unbewusst wie das Atmen. Und dabei hatte ich beinahe einem Menschen ein Auge ausgestochen. Ich hatte überhaupt nicht nachgedacht. Hatte die Kontrolle verloren. So sehr, dass ich offenbar gemeingefährlich geworden war. Nur durch einen winzigen Gedanken, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Ich hätte dem Jungen die Klinge ins Auge rammen können und es wäre nicht schwerer gewesen, als ein gekochtes Ei zu köpfen. Plötzlich musste ich wieder würgen. Ich biss die Zähne zusammen und schluckte heftig dagegen an.
Bis zu diesem Augenblick war sie mein kleines Geheimnis gewesen, diese absurde Psychokraft , mit der ich Gegenstände nur durch meine Gedanken bewegen konnte. Ich hatte sie gewissermaßen ordentlich verschnürt und verpackt und so eng an mich gebunden, als wäre sie ein deformiertes Extraglied an meinem Körper – wie ein sechster Finger oder ein dritter Arm. Etwas, was ich nicht allen zeigen wollte. Aber jetzt wussten zwei vollkommen fremde Menschen davon und einen von ihnen hätte ich beinahe zum Blinden gemacht.
Während ich im Dunkeln auf dem Boden kauerte, wartete ich auf das Klopfen an der Haustür – auf die Polizei oder die Männer in den weißen Kitteln mit der Zwangsjacke. Ich würde mich widerstandslos von ihnen abführen lassen. Denn ich war eindeutig zu gefährlich, um noch länger frei auf den Straßen Südlondons herumzulaufen. Womöglich war ich verrückt. Auf jeden Fall nicht normal .
Zitternd hockte ich auf dem kalten Boden, wartete und wartete. Aber das Klopfen kam nicht.
Schließlich löste ich meine verkrampften Hände voneinander und rappelte mich mühsam hoch. Ich hatte einen Entschluss gefasst: Ich würde sie nie mehr
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