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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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Zivil überwacht – von den jungen Diplomaten scherzhaft »goons« genannt, angeheuerte Schläger, nach den Bösewichten in zeitgenössischen amerikanischen Gangsterfilmen –, die ihm auf seinen nächtlichen Wanderungen auf dem Boulevardring folgten. Mervyn erfand Spiele, mit denen er seine Aufpasser foppte. Am liebsten rannte er auf einer belebten Straße plötzlich los und sah sich dann um, um zu sehen, wer ebenfalls losrannte. In der Metro trat Mervyn aus einer Laune heraus einmal an einen KGB-Wächter heran, den er wiedererkannte, und sagte: »Wie viele Sommer, wie viele Winter?«, die übliche Begrüßung für jemanden, den man lange nicht gesehen hat. Der KGB war für Mervyn nichts weiter als eine etwas bedrohliche Requisite in seiner Abenteuerwelt.
    Glücklicherweise tauchte bald jemand auf, der Mervyns geistige Gesundheit rettete, in der kleinen Gestalt von Wadim Popow. Popow war ein Nachwuchsbeamter aus dem Volkskommissariat für Bildungswesen und wurde der erste wirklich russische Freund meines Vaters. Sie lernten sich kennen, als Mervyn das Volkskommissariat aufsuchte, um mit seiner offiziellen Aufgabe zu beginnen, die darin bestand, einen Bericht über das sowjetische Universitätssystem zu verfassen. Wadim war ein wenig älter als Mervyn, kräftig und untersetzt, mit einem quadratischen, slawischen Gesicht. Er war ein Trinker und hielt sich für einen Frauenhelden. Manchmal war er unwirsch oder sogar grob. Doch Mervyn freundete sich schnell mit dem rauen Charme seines neuen Genossen an.
    Wadim ernannte sich selbst zu Mervyns Führer durch das, was sich mein Vater liebevoll als das »wahre« Russland vorstellte – ein Russland der verrauchten Restaurants, angeregten Gespräche und nach Körper riechenden Umarmungen. Über Monate hin und in langsamen Schritten holte Wadim Mervyn aus seiner Schüchternheit und führte ihn ein in eine glamouröse Welt voller koketter Frauen und sentimentaler, wodkaseliger Vertraulichkeiten.
    Mervyn meldete zwar pflichtgemäß sein erstes offizielles Treffen mit Wadim, bei dem sie die sowjetische Bildungspolitik diskutierten, nicht jedoch, wie es die Vorschriften der Botschaft erforderten, die vielen darauf folgenden betrunkenen Abendessen. Er wagte es nicht. Hätte irgendein Idiot in der Botschaft es herausgefunden, dann hätte man Mervyn wohl jeglichen Kontakt zu seinem einzigen russischen Kumpel untersagt, seinem einzigen Fenster zu einem Moskau, durch das seine Kollegen niemals sehen würden.
    T
    Die Mitarbeiter der britischen Botschaft, Herbst 1958. Mervyn Matthews steht in der hintersten Reihe (Mitte), mit einer grauen Persianermütze. Bemerkenswert ist der schwarze Labrador von Botschafter Sir Patrick Reilly auf dem Ehrenplatz.
    agsüber schuftete Mervyn unter den hohen Decken und in der bürgerlichen Prunk der Botschaft, die ihren Sitz im Charitonenko-Palast hatte, einem hässlichen Miniaturprachtbau direkt gegenüber dem Kreml auf der anderen Seite der Moskwa. Nachts plauderte er stundenlang über heißer Ovomaltine mit seinem Mitbewohner oder verschaffte seinen KGB-Schlägern mit nächtlichen Wanderungen auf dem Zwetnoiboulevard und der Petrowkastraße Bewegung. An den gesegneten Abenden, wenn Wadim ihn ausführte, stahl er sich aus der Sad-Sam weg hinein in eine verbotene und faszinierende Nacht mit schlechtem Essen, schrecklicher Musik und wahrhaftigen, lebensechten Russen auf den lärmenden Zigeunerrestaurantbooten auf der Moskwa. Er war glücklich wie nie zuvor.

    Der Winter bricht mit brachialer Gewalt über Moskau herein, vernichtet Farbe und Licht, treibt alles Leben aus der Stadt. Er schließt sich über der Stadt wie ein Paar muffiger Flügel, hüllt Moskau in einen Kokon und schneidet es von der Außenwelt ab. Die Stadt sieht immer mehr aus wie eine Traumlandschaft in Schwarz-Weiß, verwirrend und fast unmerklich beunruhigend. Auf den Straßen eilen Menschen mit eingezogenen Köpfen durch Seen aus schmutziggelbem Licht und verschwinden in Hauseingängen oder der Metro. Alles wird einfarbig, die Menschen in schwarzem Leder oder Pelz, die Stadt in schwarze Schatten eingehüllt. In den Unterführungen und Läden, den einzigen Orten, an denen man Menschen in hellem Licht sieht, sind die Gesichter bleich und angespannt, und alles ist durchdrungen von dem Geruch nach feuchter Wolle, der an einen nassen Hund denken lässt. Der Himmel ist schmutziggrau, tief und bedrückend.
    Im Winter in Moskau habe ich immer das Gefühl, dass die Welt sich zusammenzieht,

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