Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Gesellschaft der Welt« sei. Sokolow, aus Mervyns KGB-Akte zitierend, merkte grimmig an, sein Vater sei ja so arm gewesen, dass er niemals Wein trank.
»Das, was darunter ist, macht Angst.« Mervyn mit dem Direktor einer Kolchose auf dem Frühjahrseis des Baikalsees während seiner Spritztour mit dem KGB im März 1960.
Und es sei doch sicher höchste Zeit für Mervyn, zum Schlag auszuholen gegen das System, das seinen Vater so unterdrückt hatte. Offenbar, dachte Mervyn, waren die vielen Fässer Bier und Kisten Whisky, die sein Vater gesoffen hatte, vom KGB nicht vermerkt worden.
Nach zwei Stunden begannen die Drohungen. »Wir wissen«, sagte Alexei ernst, »dass du dich unmoralischer Akte schuldig gemacht hast.«
»Wenn der Komsomol das herausfindet«, knurrte Sokolow, »gibt das einen großen Skandal in den Zeitungen, und du wirst in Schande der Universität und des Landes verwiesen.« Das wiederum, so wusste Mervyn, war Unsinn. Es waren einfach zu wenige »unmoralische Akte« gewesen – ein einziger Bordellbesuch in Moskau mit Wadim, Nina aus Buchara, das Mädchen in der Datscha von Wadims Onkel, ein Mädchen in einem seltsamen runden Gebäude in der Nähe des Außenhandelsministeriums, die Studentin in Gagra. Alles in allem eine sehr bescheidene Liste, jedenfalls im Vergleich zu Waleri Schein oder Wadim selbst.
»Es ist an der Zeit, endlich Ja oder Nein zu sagen.« Alexei und Alexandr Fjodorowitsch sahen Mervyn erwartungsvoll an.
»Dann lautet die Antwort Nein«, sagte mein Vater. »Nichts kann mich dazu bringen, gegen mein eigenes Land zu arbeiten.«
An jenem Abend saß Mervyn auf seinem Bett und überdachte die möglichen Konsequenzen seiner Weigerung. Er erkannte, dass er die beiden nicht länger hinhalten konnte. Den angedrohten Skandal fürchtete er nicht, doch der KGB konnte seine Freunde belangen. Es kursierten finstere Geschichten über Scheinbelastungen, Unfälle, Verhaftungen wegen Rabaukentums, Aufkündigung von Aufenthaltsbewilligungen. Er entschloss sich, seine Sachen zu packen, das nächste Flugzeug zurück nach Moskau zu nehmen und die Sowjetunion, wahrscheinlich für immer, zu verlassen.
Doch so einfach war es nicht. Tage nach Mervyns Rückkehr nach Moskau kam ein versöhnlicher Anruf von Alexei. Auf höchster Ebene war entschieden worden, versicherte er meinem Vater, dass keine weiteren Schritte unternommen werden würden. Alexei bestand sogar auf einem weiteren kleinen Abendessen. Er habe eine Neuigkeit für Mervyn.
»Diese Frau, die du mal erwähnt hast, Olga Wsewolodowna Iwinskaja«, sagte Alexei beiläufig bei ihrem gemütlichen Essen, das ihr letztes gemeinsames sein sollte. »Sie ist gerade verhaftet worden. Wegen Devisenschmuggels und anderem. Sie war moralisch korrupt.«
Alexei aß weiter, und Mervyn starrte auf seinen Teller. Der Appetit war ihm vergangen.
»Eine schlechte Familie, habe ich dir doch gesagt«, fuhr Alexei fort. »An deiner Stelle würde ich mich auf 15 Kilometer von denen fernhalten.«
Mervyn sah zu, wie Alexei mehr Wein trank. Alexeis Gesicht war ausdruckslos. Zwei Wochen nach der Verhaftung ihrer Mutter wurde Irina aus ihrem Krankenhausbett geholt und zum Verhör in die Lubjanka gebracht. Kurz darauf folgte Irina, die Ballettliebhaberin und Ästhetin, ihrer Mutter in die unvorstellbar brutale Welt der Arbeitslager. Mervyn hörte nichts mehr von ihnen. Dies ist kein Spiel, dämmerte es ihm endlich. Dies ist absolut kein Spiel. Er traf eilig Vorbereitungen für seine Rückkehr nach Oxford.
10
Liebe
Abenteuer können etwas Wunderbares sein.
Mervyn Matthews zu Wadim Popow, Frühjahr 1964
Vor allem, wenn sie vorbei sind.
Wadim Popow
Das Moskau, das mein Vater kannte, war ein fest verwurzelter Ort, dessen Gewissheiten und Regeln so unabänderlich waren wie die Preise in den staatlichen Läden und die gedrungene stalinistische Stadtlandschaft. Die meisten Sowjets seiner Generation verbrachten ihr gesamtes Leben in ein und derselben Wohnung, arbeiteten im selben Beruf, kauften Wodka zum immer gleichen Preis von 2 Rubeln und 87 Kopeken und warteten zehn Jahre darauf, sich ein Auto kaufen zu können. Die Zeit wurde von Urlaub zu Urlaub gemessen, von Theatersaison zu Theatersaison, von der Veröffentlichung eines Bandes einer Dickens-Sammlung zur nächsten.
40 Jahre später, als ich nach Moskau kam, holte die Stadt die versäumte Zeit nach. Sie war besessen von ihrer eigenen zielstrebigen Modernität; sie schien sich über Nacht zu verwandeln, jede Nacht.
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