Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Staumauer. Die Frühlingsfluten rauschten durch die Turbinen, und der Beton erstreckte sich in elegantem Bogen in die Ferne. Mervyn stimmte Alexei zu, es sei fantastisch, wirklich fantastisch. Alexei nickte beifällig. Der junge Mervyn entwickelte sich prächtig. »Nehmen die aufregenden Überraschungen im Wunderland Russland kein Ende?«, schrieb mein Vater später in seinen Memoiren – ob das ironisch gemeint oder ein Echo seiner jugendlichen Begeisterung war, kann ich nicht beurteilen.
Die letzte Etappe auf Alexeis großer Sibirienreise, die eigentlich als touristische Expedition geplant gewesen war, sich aber auf unerklärliche Weise zu einer Art offizieller Rundreise durch die Wunder des Sozialismus entwickelt hatte, waren Irkutsk und der Baikalsee. Wälder, wieder endlose Wälder, und ein Horizont so weit, dass er in eine Traumlandschaft zu gehören schien. Der Baikalsee, der größte See der Erde, war blendend weiß, eine gewaltige Eisfläche über kaltem, schwarzem, 1637 Meter tiefem Wasser.
»Im Baikalsee gibt es über 300 Fischarten«, schwärmte der dicke Kolchosdirektor, der auf rätselhafte Weise Wind davon bekommen hatte, dass Alexei mit einem distinguierten ausländischen Besucher angereist war. Die drei Männer standen schweigend auf dem ächzenden Eis des Sees, im kalten Wind zitternd. Alexei, dessen sonstige Gemütsruhe unter einer Nacht in einer primitiven Bauernhütte gelitten hatte, starrte gereizt ans Ufer. Mervyn blickte zweifelnd auf das dünne Frühlingseis unter seinen Füßen, das beim Gehen spürbar nachgab.
»Nicht das Eis macht Angst, sondern das, was darunter ist«, bemerkte Alexei angesichts von Mervyns Unbehagen.
»Gehen wir noch ein bisschen weiter hinaus«, schlug der Direktor vor.
Alexei unterbreitete Mervyn sein Angebot schließlich kurz vor ihrem Rückflug nach Moskau während des Mittagessens am Flughafen von Irkutsk, bei Pelmeni, sibirischer Fischsuppe und Wodka. Mervyn hatte die Frage schon halb erwartet, doch als sie dann kam, war es trotzdem ein Schock. Ob Mervyn bereit sei, »für den internationalen Frieden« zu arbeiten?
Alexei, über den Tisch gebeugt und mit größtem Ernst im Blick, war so überzeugend, wie er nur sein konnte. Sein Loblied auf die Tugenden der gerechten sowjetischen Gesellschaft war vertraut: Mervyn stamme aus einer armen Familie, er habe die Gerechtigkeit des sowjetischen Lebens aus erster Hand erfahren können. Nun sei die Zeit gekommen, Mervyn die Gelegenheit zu bieten, etwas gegen die Ungerechtigkeiten in der Welt zu tun. Obwohl Alexei es nicht ausdrücklich sagte, war beiden klar, dass er damit meinte, für den KGB zu arbeiten.
Mervyn widerlegte Alexeis Theorien zum Klassenkampf und lehnte ab. Er könne sein Land nicht verraten, sagte er. Das Mittagessen endete mit Anschuldigungen und in gereizter Stimmung. Zum ersten Mal, seit Mervyn ihn kannte, zersplitterte Alexeis eisiger Charme, und er beschimpfte Mervyn, er sei verwöhnt, heuchlerisch und undankbar. Mervyn ließ die Tirade schweigend und peinlich berührt über sich ergehen.
Zurück in Moskau, nach einem langen, angespannten Flug, kam das Flugzeug holpernd auf dem regennassen Asphalt des Flughafens Wnukowo zum Stehen. Als sie Seite an Seite auf ihr Gepäck warteten, entschuldigte sich Alexei: »Vergessen wir’s. Ich hab mich geirrt. Es war der falsche Zeitpunkt. Ich würde dich gern wiedersehen in Moskau. Lass uns Freunde bleiben und die Sache vergessen.« Sie trennten sich verlegen. Mervyn war eher peinlich berührt als erschrocken über diesen nicht ganz unerwarteten Ausgang.
Nina aus Buchara rief Mervyn in seinem Studentenwohnheim an. Sie sei beruflich in der Stadt, sagte sie, und würde Mervyn gern sehen. Sie sei gerade auf dem Weg zum GUM, dem staatlichen Kaufhaus am Roten Platz, um sich eine Bluse zu kaufen, aber danach sei sie frei. Sie verabredeten sich für den Abend.
Als Mervyn auflegte, stutzte er. Wo hatte Nina seine Nummer her? Er nahm sich vor, sie bei Gelegenheit zu fragen, tat es dann aber nie.
Mervyn spielte Spiele. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie skrupellos die Organisation war, mit der er es zu tun hatte. Für Mervyn war der KGB personifiziert in dem weltgewandten Alexei mit seinen Schmeicheleien und den schweigenden Schlägertypen, die ihm in seinen Botschaftszeiten in respektvollem Abstand durch Moskau gefolgt waren.
Georges Nivat hatte da keinerlei Illusionen. Sein Glück mit Irina endete schlagartig, nachdem Pasternak am 31. Mai 1960 in
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