Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
Vom Netzwerk:
war. Er hatte es als Selbstverständlichkeit hingenommen, einen Preis für das Leben zu bezahlen. Der Preis war das Leiden gewesen. Er sagte nie, daß er viel gelitten habe, sondern er erzählte von Leiden nur in Zusammenhängen. Das Leiden war immer mit dem Leben verbunden gewesen. Er hatte nicht in seinem Leben nach der Leiderfahrung gesucht. Er hatte sein Leid erst zur Kenntnis genommen, wenn es unübersehbar geworden war. Je älter er geworden war, desto unruhiger war er beim Gedanken geworden, daß die Zeit verging. Er wußte nicht, wie es gekommen war, daß er auf einmal so alt geworden war. Er erinnerte sich an alles genau, als ob es zehn oder höchstens zwanzig Jahre zurückgelegen war. Dann machte Nagl die Entdeckung, daß sein Großvater etwas erwartete. Er wußte nicht, was, er fühlte nur, daß noch etwas kommen mußte.
     
    Auch Nagl glaubte, daß er im stillen immer etwas erwartete, etwas, worauf er zulebte. Und während Nagl in eine Fabrikhalle trat, dachte er, daß er sich manchmal damit betäubte, Eltern und Kindern einzureden, es gäbe für jeden Menschen eine endgültige Erwartung, auf die er hinleben mußte. Während der Gedanke an den Großvater auf dem weiten blauen Meer an Deck des Schiffes »Skagerrak« mit dem Vaporetto im Nebel verschwand, sah er in einer Fabrikhalle Arbeiter, deren Gesichter vom leuchtenden Glas beschienen waren. In Öfen brannte Feuer, die Männer saßen ruhig da, drehten das Glas, schnitten es, ab und zu klirrte Eisen und eine Entlüftungsmaschine brummte. Sie beeilten sich, ihre farbigen, gekrümmten Glasstücke zu fabrizieren, als wartete die Welt dringend auf Glaspinguine. Sein Großvater hatte Flaschen erzeugt, zuerst mit der Eisenpfeife 35 Liter-Flaschen, seine Wangen waren aus dem Gesicht gepreßt und die Lungen und Adern in seinem Körper hatten zu platzen gedroht. Während des Zweiten Weltkrieges war der Großvater dann vor Maschinen gestanden, hatte die Zeiger und Thermometer beobachtet und das chemische Gemisch überprüft. Mit »Kraft durch Freude« hatten ihn die Nationalsozialisten an Sonntagen mit seiner Schwester in Provinzdörfer geschickt, wo er Gitarre gespielt und seine Schwester den Erzherzog-Johann-Jodler gesungen hatte. Er war mit dem Komiker Panzenbeck aufgetreten und hatte ihm Stichworte gegeben. Am nächsten Tag hatte er wieder dieselben Handgriffe verrichtet, an den nächsten Sonntagen hatte er dieselben Lieder gespielt und dieselben Stichworte gegeben. Im Grunde aber hatte er nur von Zwischenfällen erzählt, und Nagl hatte einmal gedacht, daß sein eigentliches Leben die Zwischenfälle gewesen waren.
55
    In einer Trattoria, die mit dunklem Holz getäfelt war, über das Tapeten mit Luftblasen klebten, tunkte eine alte Frau Wein mit Weißbrot aus ihrem Glas. Die Frau nickte Nagl freundlich zu und machte ein Vogelgeräusch nach, dann nahm sie den Teller mit den Fischgräten und der ausgepreßten Zitrone und unterhielt sich mit Kartenspielern. Sie vergaß den Teller in der Hand und sah zu.
     
    Anna erzählte, sie habe gestern vor dem Einschlafen zu fürchten begonnen, daß Nagl sie mit dem Stilett, das er in Rom gekauft hatte, töten würde. Sie habe sich vorgestellt, daß sie gestorben sei und nichts mehr gespürt habe, obwohl sie gewußt habe, was um sie vorging. Nagl, der nicht antworten wollte, blickte durch die schmutzigen, gelben, halbdurchsichtigen Gardinen auf die Fabrikhallen und das Meer. Er setzte sich neben sie und legte einen Arm um ihre Schultern.
56
    Von den Fondamente Nuove stieg eine weinende Frau mit einem pflaumenblau und himbeerfarben gestreiften Schirm in das Vaporetto. Auf dem Wasser sah Nagl die kleinen Kreise von zerplatzenden Regentropfen. Die Läden und Türen der Gebäude waren geschlossen, kein Mensch ging auf der Straße. Während Nagl alles ruhig wahrnahm, war er plötzlich überzeugt, daß der Tod ihn nicht auslöschte. Er hatte diese Sicherheit noch nie empfunden. Als Kind hatte er das Leben ebensowenig erfaßt wie den Gedanken, nicht mehr zu leben. Alles, was ihn auf der Erde quälte, alles, woran er litt, würde sich auflösen. Er wußte nicht auf welche Weise, aber er war jetzt überzeugt, daß es geschehen würde. Am Markusplatz hüpften Spatzen zwischen Tauben, schaukelten leere Gondeln und, während sie ein anderes Vaporetto nahmen, kam Nagl, was er sah, wie verzaubert vor. Die Vorstellung von seiner Unsterblichkeit belebte seine Gedanken. Sie saßen auf dem Vorderdeck, und es war kalt. Ein mächtiger, rot und

Weitere Kostenlose Bücher