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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Das Schlimmste sei das Verlassensein gewesen, hatte er gesagt. Als Heizer und später als Arbeiter habe er immer gespürt, daß er Nichts gewesen war, jetzt aber habe er sich als jemand gefühlt, der endgültig und unwiderruflich verlassen worden war. Nagl dachte an sein Gefühl der Verlassenheit, als er im Zug gesessen war, und er sah sich am Kraterrand des Vesuv stehen, der Wind zerrte an seinem Mantel, Schnee und Nebel waren um ihn.
50
    Anna schlief. Auf dem Vorderdeck eines Vaporettos fuhr Nagl nach San Marco. Sobald das Vaporetto eine Anlegestelle verlassen hatte, wurde das Verdecklicht ausgeschaltet, und er saß in dunkler Kälte. Eine Gondel kreuzte das Schiff, Nagl sah nur den schwarzen Schatten. Die Einsamkeit ließ ihn eine Lust an der Einsamkeit verspüren. Er fürchtete sich nicht mehr vor ihr. Er kannte den Schmerz, verlassen zu werden, und er wußte, wie viel auf Lügen beruhte. Sein Beruf beruhte auf Lügen, seine Beziehungen zu anderen Menschen … Lügen, lauter Lügen. Ohne zu verheimlichen, war es ihm nicht möglich gewesen zu leben. Er sprach nicht, wie er wirklich war, sondern wie er sein wollte. Vielleicht bedeutete jeder Satz, den er sprach, etwas anderes, als er meinte. Vielleicht hatte er Ansichten angenommen, zu denen er sich bekennen konnte, ohne daß es die waren, die er wirklich hatte. Vielleicht war seine wahre Philosophie die Lüge. Er hatte in seinem Leben mehr Lügen ausgesprochen als Wahrheiten. Sein Gehirn dichtete anderen Menschen ein Leben von sich vor, das mit seinem wirklichen nichts zu tun hatte. Er schonte andere mit Lügen, er ersparte sich Konflikte, er erfüllte sich Wünsche, alles nur mit Lügen. Nagl schaute auf das dunkle Wasser. Sie näherten sich einer Anlegestelle, der Schaffner im marineblauen Mantel mit goldenen Knöpfen zog fröstelnd ein Eisengitter zur Seite, und Nagl stieg aus. »Das ist ja das Seltsame, daß es nicht von selber geht, die Wahrheit zu sprechen«, dachte Nagl, »sondern daß ich von selbst lüge.« Immer dachte er, wenn er sprach, gleichzeitig darüber nach, ob es auch unbedenklich wäre, die Wahrheit zu sagen.
     
    Die Rolläden hinter den Arkaden waren geschlossen, auf den gemusterten Steinböden standen Pfützen. Vor dem Cafe Quadri waren gelbe geflochtene Stühle mit der Aufschrift »Martini« an der Lehne zu einem Haufen zusammengeworfen. Durch die Scheiben des Cafes sah er die olivgrünen Polsterstühle auf den gedeckten Tischen, zwischen den Marmorsäulen und den Spiegeln. Die Arkaden verliefen sich im Dunkeln. Eine Lampe über dem großen Platz schaukelte und warf ein schwankendes Licht auf die nassen Steine. Während Nagl die Uhr mit dem Himmel und den Sternzeichen und den Löwen vor dem blaugoldenen Sternenhimmel betrachtete, während sein Blick das geometrische Muster des Bodens entlanglief und schließlich auf den Campanile fiel, der dunkel in die Nacht ragte, während er zu den verzierten, orientalisch geschwungenen Märchentürmen und Mosaiken der Markuskirche hinaufschaute, waren seine Gedanken woanders. Nur der Sternenhimmel am Uhrturm hinter dem goldenen Löwen lenkte ihn ab. Die Sehnsucht nach den Sternen, dem All, es zu sehen und zu überschauen, sich in ihm zu verlieren, war in ihm als eine Vorstellung des Jenseits. Er dachte dann, daß es 100 Millionen Billiarden Sterne im All gab. Er hatte die Kinder manchmal durch ein Nachtfernrohr auf den Mond sehen lassen und ihnen diese Zahl gesagt. Schon die Vielfalt auf der Erde war unvorstellbar – es gab eine Million verschiedene Tiere und vierhunderttausend Pflanzenarten. Wasser, Luft und Land waren durchsetzt von organisierter Materie, die eine Unzahl von Stoffen aufnahm, umwandelte und wuchs, sich fortpflanzte und Abarten entwickelte, tötete und getötet wurde, um neuen Graskeimen, Spülwürmern, Walfischen, Nachtigallen oder Krokodilen Platz zu machen und Nahrung zu sein. In ständig wandelbarer Form hatte das Leben es geschafft, sich trotz katastrophal anmutender Veränderungen der Erde über vier Milliarden Jahre zu erhalten. Als er mit Anna im Zug gefahren war, hatte er an das Ende der Erde gedacht, nun aber dachte er an dieses Leben, und es war ihm genauso unbegreiflich. Denn diese unfaßbaren, unbegreiflichen Tatsachen waren Angelesenes, und weder ließ ihn das Wissen um das Ende der Erde anders leben, noch tröstete ihn die Kenntnis des vielfältigen Lebens auf ihr. Die Gondeln vor dem Markusplatz hoben sich im Wasser, und die Möwen schaukelten auf dem Meer wie

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