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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Gehirne von Lebewesen, und je länger Nagl die Gassen hinunterging, desto mehr kam es ihm vor, als ginge er durch Bäuche von geschlachteten Riesentieren, deren Innereien traubenförmig zu Boden hingen, seltsame Organe wie Artischocken und Karotten, die noch Sauerstoff und Blut enthielten, Melonen, die riesige, erblindete Augen waren. Elegisch und leidend blickende Witwen saßen vor den Eingeweiden fremder Wesen, warfen den Vorbeigehenden mitleiderregende Blicke zu oder verpackten auf der wippenden Fläche der runden Waagen Früchte in Papiersäcke. Nagl sah die in den Wänden eingelassenen Marienschreine, die von Neonleuchten umrahmt oder von Glühbirnen wie von einem Lichterkranz umgeben waren, Maria mit dem Jesusknaben, davor standen vertrocknete Nelken in häßlichen Glasvasen auf schmutzigem Gehäkelten. Die Darstellungen ähnelten den Bildern, die Nagl als Kind zur Belohnung nach der Beichte vom Pfarrer bekommen hatte. Auch Stübing fiel ihm ein, die kleine Kapelle, die dunklen Bauernhäuser. Die Religion schien ihm ein kunstvolles Gebilde aus den Händen des Todes, und sie schien nur den Tod zu verkünden. Inmitten dieses Gemetzels von Innereien der Erde reihten sich die Heiligenschreine aneinander, wie um das Leiden, den Schmerz, das Vergängliche aufmerksam zu machen. Er dachte an Anna, wie sie ihn nackt auf dem Bett umarmt hatte, ihre weiße Haut, an das Leben, das sie geben konnte, an eine durchsichtige Fruchtblase, in der ein Embryomensch sich bewegte. Embryomenschen gingen herum, waren alt, saßen auf Sesseln neben Kartons voller wunderbar großer Eier, fossilierten Fruchtblasen, neben Käfigen mit dicht aneinander gedrängten braunen Hühnern, Ställen mit gefleckten und weißen Hasen, über denen in Glaskästen geschlachtete und abgezogene Kadaver ausgestellt waren. In blauen Blechgefäßen krabbelten Langusten durch Wasser, in das mit durchsichtigen Nylonschläuchen Luft gepumpt wurde, auf Tischen waren tote Fische – Sardinen, Aale, Schollen, Makrelen, Polypen mit goldenen Augen, Rochen – und andere ausgebreitet, die er noch nie gesehen hatte, mit bizarren Köpfen, Stacheln, und großen Mäulern, rote und gesprenkelte zwischen grauen, toten Tintenfischen, die wie Gedärme aussahen. In einer Schüssel lagen große silberne Fische und glitzerten und blinkten in der Sonne. Die Geschäfte dahinter waren blau und ohne Türen, und die Männer trugen Gummischürzen und sahen aus wie Mörder. Andere Läden verkauften Hundeleinen und Badeschwämme, die in langen, dichten Bündeln vor den Eingängen hingen. Hinter einem schmutzigen Fenster sah Nagl ein trauriges Vogelgeschäft mit Eisenkäfigen, in denen Kanarienvögel, Ringeltauben und Wellensittiche hockten. Aus dem Geschäft gurrte und zwitscherte es, daß Nagl stehenblieb und zuhörte. Mitten im Tod, im Chaos sangen diese Vögel. Sie sangen mit verschwenderischer Pracht, trillerten, zirpten, pfiffen und wisperten, während Menschenströme an ihnen vorüberzogen und sie nicht beachteten. Kinder umringten Nagl, zupften an ihm, zerrten an seiner Hose und liefen davon und Anna schaute mit großen Augen durch die Scheibe, als verkündeten die Vögel etwas, worauf sie immer gewartet hatte. Nagl hörte zu: Es war etwas Reines, und gleichzeitig war es eine Erinnerung an erstes Morgenlicht, an in Krankheit durchwachte Nächte, an späte Heimkehr nach langen Umarmungen, an Vormittage im Liegestuhl vor dem Winzerhaus, wo er den Vögeln zugesehen hatte, wie sie unter den dichten Blättern der Obstbäume verschwunden waren und dort gesungen hatten. Ein Lieferwagen kam mit langen Blöcken von Eis, ein Bursche entlud sie mit einer Eisenhacke, der Mann in der Gummischürze zerhackte sie in Stücke und schüttete sie über die Haie, Scampi, Sprotten und das andere Getier, das nicht mehr lebte oder gerade starb. Inzwischen sangen die Vögel selbstvergessen vor sich hin. Es war Nagl, als wollte die Natur die Menschen für ihre Grausamkeit trösten. Neben einer Kiste mit Äpfeln, Ananas, Mandarinen, weißen Champignons und Kastanien sah er einen Limonadenstand, von dem prallgefüllte Netze mit Zitronen und Orangen hingen, so daß der Verkäufer nur durch eine kleine Öffnung zu erkennen war. Nagl stieß gegen leere Limonadenflaschen, als er sich Zitronen und Orangen in ein Glas pressen ließ. Er trank und spürte, wie es kühl durch seine Adern lief bis in die Fingerspitzen. Vor einem Holzgestell mit großen grünen Blättern, auf denen aufgeschnittene Kalbsköpfe mit

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