Winterzauber
beruhigen. Ohne Erfolg. Ich bekam einfach sein Gesicht nicht aus meinem Kopf. Das Gesicht eines Fremden und mir trotzdem so vertraut, wie mein eigenes.
„Du fehlst mir jeden Tag, Gabe“, flüsterte ich nach einer gefühlten Ewigkeit in die Dunkelheit meines Zimmers hinein, da ich beim Eintreten kein Licht eingeschaltet hatte.
Gabriel Turner. Mein Freund. Mein toter Freund.
Vor zwei Jahren, sechs Monaten und vier Tagen von einem Trucker zerquetscht, der hinter dem Steuer seines 40-Tonners eingeschlafen und in ein Stauende gekracht war. Gabriel war mit Kollegen auf dem Weg zu einem Konzert gewesen, zu dem ich ihn nicht begleiten konnte, weil ich an den letzten Seiten eines Buches gearbeitet hatte. Seine Kumpel Matt und Brian waren sofort tot gewesen, Gabriel hatte es bis ins Krankenhaus geschafft. Er war solange am Leben geblieben, bis ich mich von ihm hatte verabschieden können.
Gabriel war der Grund, dass ich nicht mehr lachen konnte. Er war ebenfalls der Grund dafür, dass Janosch und Baxter vor unserem Umzug hierher nach Greenville, vorübergehend zu mir gezogen waren, weil ich nur wenige Stunden nach Gabriels Beerdigung versucht hatte, mich umzubringen.
Zehn Sekunden Schlaf hatten gereicht, um mein Leben zu zerstören, und ich wäre an meiner Trauer um Gabriel völlig zerbrochen, wenn Janosch und Baxter nicht so hartnäckig um mich gekämpft hätten.
Sie wandten sich nicht von mir ab, wie all die anderen es damals taten. Mein Agent, weil ich nicht mehr in der Lage war zu schreiben. Mein Verlag, der den Vertrag auflöste, weil ich als psychisch labiler Autor für das Geschäft leider untragbar geworden war. Sogar meine Freunde wandten sich ab, weil sie mit mir irgendwann nicht mehr umgehen konnten.
Mein kleiner Bruder und sein Freund gaben damals in New York City alles auf, um für mich da zu sein, nachdem ich allein nicht mehr zurechtkam.
Mit Gabriels Tod verlor ich mich selbst, doch Janosch und Baxter schafften es mit viel Geduld, die Scherben in meinem Inneren wieder zusammenzusetzen. Ich fing ein neues Leben an und begann, neue Bücher zu schreiben. Auch wenn ich das Lachen verlernt hatte, war ich mit dem, was ich hier erreicht hatte, zufrieden gewesen.
Bis vor zwei Stunden.
Bis diese Kopie von meinem verstorbenen Freund in einem Schneesturm an unsere Tür geklopft hatte.
Wynn, erinnerte ich mich.
Dieselben dunklen Augen, dasselbe braune Haar und eine ähnliche Statur. Groß, muskulös. Nur das Alter stimmte nicht, denn auch wenn ich vorhin geflüchtet war, hatte ein Blick in das Gesicht des Mannes ausgereicht, um mir jede Linie, Falte und Narbe einzuprägen. Ich wollte wissen, woher die kleine Narbe über der linken Augenbraue kam und verfluchte mich dafür. Ich wollte wissen, ob sein Lachen, auf das die Lachfalten um seine Augen herum hindeuteten, wirklich so ansteckend war, wie ich es mir insgeheim vorstellte. Auch dafür verfluchte ich mich.
Dieser Mann war nicht Gabriel und er durfte es niemals für mich werden. Ich würde keinen weiteren Absturz, so wie nach Gabriels Tod, überstehen.
Nur änderte das leider auch nichts daran, dass unser Gast jetzt vermutlich im Wohnzimmer saß, sich aufwärmte, dabei von Baxter umsorgt wurde, und dadurch für mich zum Greifen nah war. Wenn ich vermeiden wollte, ihm zu begegnen, würde ich in meinem Zimmer bleiben müssen, bis er weg war.
Mein Blick wanderte zum Kleiderschrank. Oben rechts, in der Ablage für Bettwäsche, ganz hinten in der Ecke, stand ein Karton mit Bildern von Gabriel. Ich hatte es bis heute nicht übers Herz gebracht, mich von ihm zu trennen. Alles andere, Gabriels Sachen, seinen Computer, und sogar die Möbel, die er mit in unsere Beziehung und auch mit in unser Haus gebracht hatte, hatten Baxter und Janosch kurze Zeit nach Gabriels Tod auf meine Bitte hin weggegeben.
Eigentlich hatte ich alles von Gabriel aus dem Haus haben wollen. Wirklich alles. Für immer.
Ein paar Monate später war ich froh gewesen, dass Janosch und Baxter nicht auf mich gehört und wenigstens diese Bilder behalten hatten, die heute mein größter Schatz waren. Ich war hin und hergerissen, ob ich sie holen und ansehen sollte, oder nicht. Wahrscheinlich war es keine gute Idee. Jedenfalls nicht gerade heute Nacht.
Ein Klopfen an der Tür ersparte mir die Entscheidung, ließ mich aber gleichzeitig heftig zusammenzucken. Wer war das? Für einen entsetzlich langen Moment stellte ich mir vor, dass Wynn vor der Tür stand, obwohl ich natürlich wusste, dass das
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