Wir haben keine Angst
Songtextes.
»Mein Gott, kann der Typ sich nicht vielleicht endlich mal seine verdammte Zeile merken?«, zischt die Favoritin aggressiv von hinter dem Spind. »So schwer kann das doch nicht sein, ey!«, ruft sie durch die Umkleide. Sie wischt sich den letzten Schnodder von der hübschen Stupsnase und versucht, ihr zerflossenes Make-up zu richten. »Wo hat Boris schon wieder das verdammte Mascara versteckt?«, murmelt sie genervt und versucht, auf ihren Fünfzig-Zentimeter-Absätzen den Boden der Umkleide nach der Schminke abzusuchen. Sie sieht sich im Spiegel. Geschockt schlägt sie sich die Hand vor den Mund. Das Gesicht der Topkandidatin ist zu einer verheulten Angstfratze entstellt. »O Gott«, entfährt es ihr. Sie sieht alles andere als happy und massentauglich aus. So komme ich nie auf den Titel der deutschen Vogue und gewinne Werbeverträge im Wert von 500 000 Euro, jagt es ihr durch den hübschen Kopf. In diesem Moment brechen auch noch die Absätze unter ihren Füßen weg.
Der Hänger lacht hinter seiner Gitarre. »Ist doch gut, wenn du mal runterkommst, Beautyqueen«, höhnt er. »Du bist doch eh schön! Ganz so wie du bist!«
Die Normalos finden das alles krank. Nachdenklich blicken sie auf ihren Recall-Zettel. Wie viele Runden werden sie wohl noch mitkommen, wenn sie nicht so werden wollen wie diese Freaks? Müssten sie nicht auch viel härter arbeiten? Müssten sie nicht auch viel mehr Charakter zeigen? Graue Mäuse will niemand performen sehen. Langsam bekommen auch sie Angst vor dem Auftritt.
*
Anna klebt der Stress an den Hacken wie ein zweiter Schatten. Wir, die wir ein bisschen so sind wie sie, sprechen seit Jahren über nichts anderes. Darüber, dass im Moment alles nicht nur ein bisschen, sondern mega-stressig ist. Dass wir eigentlich endlich einmal runterkommen müssten. Dass wir echt mal wieder ein bisschen Zeit für uns selber bräuchten. Dass wir uns einfach mal wieder so richtig entspannen müssten und zwar dringend. Einfach mal niemanden treffen sollten wir. Niemanden anrufen und keine einzige Mail schreiben. Offline gehen, nicht als Selbstversuch, sondern einfach so. Um nur bei uns selbst zu sein. Wenigstens mal einen Abend lang. Nur leider klappt das viel zu selten. Wir sind eben einfach immer so verdammt busy.
Manchmal weint Anna alleine abends in ihrer Küche. Aus dem Nichts kommen ihr die Tränen, immer mehr, minutenlang, einfach so. Denn Anna kann einfach nicht mehr. Ihr Körper sagt das schon lange. Seit ein paar Jahren hat sie diese Rückenschmerzen. Diese Kopfschmerzen. Diese Blasenentzündungen. Die Paracetamol 500 hat sie deshalb immer in der Tasche dabei. Aber die halten nie lange.
Wir, die wir wie Anna sind, stressen uns ohne Ende und schaffen trotzdem nie das, was wir uns vorgenommen haben. Unser Alltag besteht aus einer Hangelakrobatik von einem To-Do-Listen-Punkt zum nächsten. Je stressiger es wird, desto genauer schreiben wir uns jeden kleinen Schritt, den wir tun, auf. Einfach, weil es sich so unglaublich sicher anfühlt, etwas von der Liste streichen zu dürfen. Weil die Befriedigung, das eingekreiste » SOFORT « eliminieren und am Ende des Tages die kleinen Häkchen hinter den abgearbeiteten Aufgaben zählen zu können, so groß ist. Denn erst, wenn das wahnsinnige Soll, das wir uns selbst auferlegt haben, endlich erfüllt ist, können wir kurz einmal richtig durchatmen.
Bis es am nächsten Tag gleich weitergeht. Und am Tag darauf sowieso. An dem sind wir nämlich auch schon total ausgebucht.
Das liegt daran, dass wir alles auf einmal wollen. Dass wir nicht nein sagen können. Wir nehmen alle Jobs an, jede Möglichkeit, um zu zeigen, dass wir es drauf haben. So eine Chance kommt schließlich vielleicht nie wieder.
Über die Jahre sind uns nur die Namen der vermeintlichen, großen Bedroher, die schuld an unserer hemmungslosen Überbuchung sind, geblieben. Am Ende haben wir sie alle runtergerockt, haben sie alle in Erfolge verwandeln können: das Studium, das Praktikum, das Auslandssemester, das Examen. Das Volontariat, die Mappe, den Entwurf, die Skizze. Den Abschlussbericht, den Antrag, das Exposé, die Doktorarbeit. Den ersten Job, das Projekt, die Kampagne, den Pitch.
Sie alle sind schuld daran, dass wir jetzt nicht mehr können. Und ein bisschen auch wir selber. Denn neben der ganzen Arbeit wollen wir ja auch noch entscheiden, wie es mit uns auf Dauer überhaupt weitergehen soll. Was wir eigentlich wollen. Wer wir eigentlich sind. Ob der Platz, auf dem
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