Wir haben keine Angst
Prolog
Wir haben keine Angst!
Wie oft soll es denn noch fünf vor zwölf sein?
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Los ging das mit dem Nix-Passieren an dem Tag, an dem der Regen fiel. An diesem Tag im April durfte ich nicht auf den Spielplatz. Ich durfte auch nicht in den Kindergarten. Ich durfte noch nicht einmal die Wohnung verlassen. Und das alles nur, weil Schauer angekündigt waren.
»Wir können ja Gummistiefel mitnehmen?«, schlug ich meiner Mutter mit meinem Sandkasteneimer und meinen Kuchenförmchen in der Hand hoffnungsvoll vor. Für mich machte das alles überhaupt keinen Sinn. Regenwolken standen bei uns in Hamburg schließlich fast 365 Tage im Jahr auf der Wetterkarte. Meine Mutter schüttelte den Kopf. Ihre Stirn lag in tiefen Falten.
Der Regen sei sauer, erklärte sie mir ernst. Es habe da einen Unfall gegeben. Auch ich legte die Stirn in Falten, imitierte sie. Ich fand das witzig. Wieso sollte der Regen sauer auf mich sein? So ein Quatsch. Der Regen mochte uns! Wieso würde er uns sonst so oft besuchen? Und wieso sollten wir etwas mit einem Unfall zu tun haben?
»Tschernobyl«, sagte mein Vater. Es sei alles ganz furchtbar. Behutsam nahm er mir mein Spielzeug aus der Hand. Ich verstand nun noch weniger. Eigentlich nur, dass es jetzt nicht mehr angemessen war zu lachen.
Ich zog mich in mein Kinderzimmer zurück und legte Rolf Zuckowski auf. Mir war das Ganze zu blöd. Ich wollte doch nur raus und spielen! Beleidigt verkaufte ich mir selber Obst in meinem Kaufmannsladen.
Eine Stunde später begann es zu regnen. Es klingelte an unserer Haustür. Martin, seit der Krabbelgruppe mein bester Freund, wurde von seiner Mutter Barbara in unsere Wohnung getragen. Statt mich zu begrüßen, schob Barbara mich wortlos zur Seite und stürzte mit Martin auf dem Arm durch den Flur in Richtung Badezimmer. Mit ihren Straßenschuhen stampfte sie über unseren Teppich, der sonst eigentlich um Himmels willen nicht dreckig werden durfte. Meine Mutter rannte den beiden hinterher. Martin habe ein paar Tropfen Regen abbekommen, rief sie mir zur Erklärung der Hektik über ihre Schulter zu.
Ich tapste zur Badezimmertür. Martins Mama hatte das Wasser in der Dusche voll aufgedreht. Die zwei Erwachsenen stellten den für meine Begriffe komplett trockenen Martin mit all seinen Klamotten in die Badewanne, meine Mutter zog ihm noch schnell die Brille von der Nase, deren rechtes Glas mit einem runden Tierpflaster verklebt war. Dann begannen die beiden, ihn von allen Seiten abzuduschen, als wäre er eine lausbefallene Zimmerpflanze. Hysterisch versuchten sie ihn aus seinen nassen, klebenden Hosen zu pellen. Es sah lustig aus.
»Hol lieber ein Handtuch, anstatt hier so zu kichern«, sagte meine Mutter und fuchtelte in Richtung Badezimmerschrank. »Du willst doch auch nicht, dass dein bester Freund krank wird!«
Der unter der Brause durchs Wasser blinzelnde und nach Luft schnappende Martin und ich schauten uns an. Wir waren erst vier und verstanden nicht viel von der Welt. Aber so viel war klar: Unsere Mütter waren verrückt geworden. Es war deshalb besser, einfach alles zu tun, was sie wollten.
Brav kramte ich mein Lieblingshandtuch aus dem Schrank, das hellblaue mit dem Elefanten drauf, der Wasser durch seinen Rüssel spritzen ließ. Erst als er so lange trocken gerubbelt worden war, dass er überall schon ganz rot war, ließen unsere Mütter Martin gehen und ich durfte ihn auf eine Tasse warmen Kakao zu mir ins Kinderzimmer einladen.
Wir schauten hinaus in den Regen. Sauer hin oder her, wer sollte vor diesen paar ziemlich normal aussehenden Regentropfen ernstlich Angst haben? »Niemand, niemand«, singsangte es durch unsere Köpfchen. Unbeeindruckt verkauften wir einander Obst im Kaufmannsladen.
Nach dem Tag mit dem schlechtgelaunten Regen ging alles so weiter wie immer. Es war nix passiert. Den Unfall, mit dem wir nichts zu tun gehabt hatten, vergaßen wir schnell. Wir durften wieder in den Kindergarten zurück, wir durften wieder auf den Spielplatz und draußen auf der Straße durch Regenpfützen springen.
Unsere Eltern hatten sich beruhigt. Allerdings nur vorläufig. Denn schon bald sollte es weitergehen. Wir versuchten ja, die ängstlichen Erwachsenen zu verstehen. Jedes Mal, wenn sie wieder Alarm schlugen, ließen wir uns alles genau von ihnen erklären. Nur kapierten wir leider nie allzu viel davon. Am wenigsten ihre Aufregung. Und so beschränkten wir uns darauf, das komische Benehmen unserer Eltern nur noch in seine
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