Wir haben keine Angst
so sind wie er, sprechen seit Jahren mit niemandem darüber. Wir sprechen lieber über alles andere. Darüber, was für Musik wir uns runtergeladen, welche Filme wir gesehen haben, welche Clubs geschlossen und neu aufgemacht haben, was wir vorhin auf SpiegelOnline und vorgestern in den Büchern aus der Bücherhalle gelesen haben. Darüber, dass wir noch einkaufen müssen. Darüber, dass wir alles im Moment einfach ruhig angehen und auf uns zukommen lassen wollen. Dass wir uns nicht verrückt machen und uns bloß nicht stressen lassen wollen wie alle anderen.
Bastian redet gerne und viel darüber, dass er den Kopf voller Ideen für später hat. Für die er alles geben würde, so wie früher, wenn er begeistert von etwas war. Seine Augen blitzen dabei. Es liegen so viele unangezündete Streichhölzer um ihn herum. Er bräuchte eben nur mal echt wieder ein bisschen Zeit für sich selber, um diese ganzen kreativen Baustellen zu ordnen. Nicht so Zeit wie jetzt, sondern irgendwie anders, bewusster. Um einfach mal nur bei sich selbst sein. Wenigstens ein paar Wochen lang. Aber das klappt leider viel zu selten. Bastian schafft es manchmal ja kaum zum Supermarkt um die Ecke. Er vergisst es. Oder verschläft die Öffnungszeiten. Oder hat einfach keine Energie. Er ist eben einfach immer so verdammt antriebslos.
Wir, die wir ein bisschen so sind wie er, schaffen nie das, was wir uns vorgenommen haben. Unser Alltag besteht aus einer Hängeakrobatik von einem Tag zum nächsten, ohne To-Do-Liste, ohne Plan. Am Ende des Tages ist alles wie am Anfang des Tages. Keiner hat es gemerkt, vor allem nicht wir selber. Wir wissen nicht, wo die Zeit geblieben ist. So wie am Tag zuvor. Und, wahrscheinlich, auch am Tag danach.
Während sich die Welt hektisch dreht, schlendern wir einfach immer so nebenher. Schuld an unserer Lethargie ist dieser verdammte Berg. Das Studium, das Examen, die Jobsuche. Das ganze große Unerledigte.
Bastian müsste sich endlich fürs Diplom anmelden. Aber er hat leider noch vier Hausarbeiten auf Halde, die er über die letzten zwei Jahre mitgeschleppt hat. »Vor meinem Ableben«, hatte sein Professor gesagt und gegrinst, als es um das Abgabedatum ging. Bastian fand das echt fair von ihm. Die eine Hausarbeit hat er sowieso fast fertig, nur das Fazit und der Literaturüberblick fehlen. Und die Fußnoten. Und die Einleitung. Aber alles andere steht. Zumindest in seinem Kopf. Es muss nur noch runtergschrieben werden. Und die letzten zwei Scheine sind Praktikumsberichte, aber die zählen eigentlich sowieso nicht. Schuld ist eben nur dieser kleine, aber doch noch zu überwindende letzte Berg vor ihm.
Und ein bisschen auch er selber. Denn nach der ganzen Arbeit, die Bastian noch vor sich hat, müsste er ja auch noch entscheiden, wie es mit ihm auf Dauer überhaupt weitergehen soll. Was er eigentlich will. Wer er eigentlich ist.
Wir, die wir so einen Berg vor uns herschieben wie Bastian, müssten uns irgendwann darüber klarwerden, ob wir eigentlich je auf irgendeinem Platz sitzen wollen. Ob es sich wirklich lohnt, sich wie alle anderen jeden Tag in ein Kostüm zu werfen, eine dumme Krawatte umzubinden, sich abzurackern, unfrei, zwischen mega-gestressten, unlockeren Menschen, die wir dann acht Stunden am Tag ertragen müssten. Um eigentlich nur noch für die wenigen Ferientage im Jahr zu leben. Und den Rest aller anderen Tage etwas zu tun, auf das wir eigentlich vielleicht gar nicht so große Lust haben. Das uns nach einem Jahr doch wieder langweilen würde. Das uns auf Dauer nicht erfüllen würde. Weil unsere Begeisterungs- und Aufmerksamkeitsspanne ganz nach Bastians Streichholzprinzip funktioniert.
Vielleicht würden wir nämlich in dem Job, den wir dann irgendwann einmal hätten, eigentlich doch nur unsere Zeit verplempern. Wo wir doch eigentlich schon wo ganz anders sein müssten. Irgendwo, wo wir uns unsere Freiheit besser bewahren könnten. Vielleicht in einem zweiten Studium. Oder noch mal ganz draußen, weit weg, irgendwo im Ausland. Wo dann nebenbei auch die Sonne öfter scheinen würde als hier und die Leute nicht jeden Tag in der Bahn solche Fressen ziehen würden.
Bevor unser Berg nicht abgearbeitet ist, werden wir aber sowieso nicht herausfinden, wo dieser andere, richtigere, schönere Platz sein könnte. Bevor das Jetzt nicht bewältigt ist, können wir über das Später nicht nachdenken. Jetzt können wir einfach noch nicht wissen, wie wir am besten zu diesem Ort finden und wie wir ihn, wenn es denn
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