Wir haben keine Angst
einmal so weit ist, erreichen können. Welche Strategien auf diesem Weg die richtigen sind. Zumal wenn uns niemand sagen kann, was uns eigentlich zusteht.
Bastian weiß: Niemand wartet auf ihn. Er hat sein Studium dreimal gewechselt, die Regelstudienzeit lange hinter sich gelassen. Außer einmal vor drei Jahren und da auch nur für einen Monat hat er keine Praktika gemacht. Sein Auslandssemester hat er abgebrochen. Und bei der Vitamin-B-Connection seines Vaters hat er es dann doch irgendwie verrafft, sich noch mal zu melden. Ab und zu hilft er bei einem kleinen PR -Büro aus, aber die Stimmung in dem Laden ist mies, zumindest ist es nicht seine. Diese Stressstrebertypen sind einfach nichts für ihn. Weshalb er vor zwei Jahren auch gleich klargemacht hat, dass sie ihm bloß nie irgendwas anbieten sollten. Er weiß nicht, ob das schlau war. Aber damals fühlte es sich richtig an.
Bastian glaubt nicht mehr daran, dass es die eine Stelle irgendwo da draußen, die genau zu ihm passt,
die er ist
, überhaupt gibt. Und wenn es sie gäbe, hat sie sich mittlerweile sicher schon jemand anderes geschnappt. Wo immer sie ist, sie ist sicher schon belegt.
Wir, die wir so ticken wie Bastian, wollen uns einfach noch nicht versklaven lassen. Um uns selber nicht zu verpassen. Und uns damit zu verfehlen. Dann wären wir auf ganzer Linie gescheitert. Weil wir die einzig richtige, freie Version unseres Selbst nicht kennengelernt hätten und deshalb nicht ausleben könnten. Andererseits: Wenn wir so weitermachen und immer länger warten, werden wir uns mit großer Wahrscheinlichkeit sowieso verpassen.
Was für eine Horrorvorstellung. Wenn Bastian nur daran denkt, kriegt er das Kotzen.
Er hebt den Blick von der Kleenex-Schachtel auf dem Fensterbrett, auf die er während seines gesamten Redeschwalls gestarrt hat. Herr G. nickt verständnisvoll. Bastian findet dieses Genicke albern.
»Bis nächste Woche«, nuschelt er knapp und verlässt die Praxis ohne einen Händedruck. Bastian muss das alles jetzt erst mal verdauen. Der Typ ist ihm durch sein komisches Schweigen irgendwie zu nahegekommen.
»Ich hab’ keine Angst«, denkt Bastian, während er sein Fahrrad aufschließt. Es regnet immer noch. Die Leute trinken ihre ersten Biere drinnen. Bastian will sich heute nicht dazusetzen. Er muss jetzt erst mal runterkommen. Und vergisst dabei, dass er noch einkaufen wollte.
*
Wie lange unsere kranke Castingshow eigentlich schon läuft? Ob wir schon einmal darüber nachgedacht haben, sie abzusetzen? Klar. Wir finden sie ja auch scheiße! Aber die Quote ist eben so umwerfend. Das ist halt genau das, was der Zuschauer sehen will. Und bei
den
Werbeeinnahmen und
der
erfolgreichen Marketingmaschine drumherum sollte man ab einem gewissen Punkt einfach seinen Mund halten und sich freuen, dass alles so gut läuft. Hört sich ziemlich nüchtern an. Und das ist es auch.
Was uns bloß so ruiniert hat? Wie Anna zu Anna geworden ist? Und Bastian zu Bastian? Herrn G. interessiert das auch. Er fragt es nur netter. »Wie lange geht das schon so, mit diesem irrsinnigen Druck, den Sie verspüren«, will er wissen.
Es dürfte so um das Abi herum gewesen sein. Da fiel der Startschuss zu unserer großen Verpassens- und Versagensangst. Da eröffnete sie sich zum ersten Mal vor unseren Augen: die große, endlos weite Fläche. Offen, horizontlos, infinit lag sie plötzlich da.
Zukunft, so lautete dieses Neuland. Eine unangetastete, zu gestaltende, weiße Leere. Ohne einen einzigen Farbtupfer, ohne Begrenzungen, Zwänge, Zäune, Hindernisse. Wir nahmen all unseren Mut zusammen und betraten, zögerlich, das weiße kühle Glatteis des Noch-Nichts. Wenn schon nicht euphorisch, dann aber doch mit einem gewissen Elan kippten wir die verworrenen bunten Fäden unseres jungen Lebens auf der weiten, weißen Flur aus. Es würde schon alles nicht so schlimm sein.
Da lag es dann, das ganze wirre, lustige Knäuel an Möglichkeiten. Eines wurde uns sofort klar: Alleine würden wir nicht weiterkommen mit diesem Gewirr. Wir riefen deshalb alle, die es gut mit uns meinten, unsere Lehrer, Eltern, Patenonkel, Berufsberater und Freunde mit an den Tisch, um in langen Einzel- und Gruppengesprächen abwechselnd mit ihnen darüber zu debattierten, was mit diesem großen, gemischten Optionensalat nun anzufangen war. Gemeinsam friemelten wir erst einmal die Fäden auseinander. Bis sie irgendwann fein säuberlich getrennt vor uns lagen.
Und nun? Wir schauten von einem Berater zum anderen.
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