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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Weisband
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auf der Bühne, der irgendwas von mir wollte; das war alles weit weg. Die Zeit war für einige Sekunden stehen geblieben und hatte eine tiefe Kerbe in meine Biographie geschlagen. Wie eine Markierung, nach der alles anders werden sollte.
    Schließlich musste ich doch auf die Bühne, ich ging ruhig hin und ließ mir nichts anmerken. Nicht, dass ich dafür irgendwas unterdrücken musste. Ich fühlte in diesem Moment nicht viel. Der Wahlleiter fragte: »Nimmst du die Wahl zur politischen Geschäftsführerin an?«
    Das war reine Routine. Ich sah ihn unsicher an. »Ist mir eine Gegenfrage erlaubt?«, fragte ich gleichzeitig ihn und das Mikrophon.
    »Ja, natürlich.«
    »Werdet ihr mir helfen?« Diesmal hatte ich mich wirklich nur an den Saal gewandt. Gar nicht so üble Parteitagsrhetorik, hätte man mir meine echte Verzweiflung nicht so deutlich angemerkt.
    Doch wieder ertönte ein Jubel. Der Wahlleiter legte das als »Ja« aus. Auch ich erwiderte daraufhin: »Ja.«
    Das war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich würde gern behaupten, es sei der erste gewesen.Es ist immer ziemlich seltsam, über sich selbst zu schreiben. Man fühlt sich, als würde man scheinbar unwesentliche Details in den Vordergrund spielen, während doch das Wesentliche – die politische Aussage – im Mittelpunkt steht. Der Verlag war der Ansicht, dass meine Biographie eine wichtige Rolle spielt. Ich denke, das könnte sogar richtig sein. Es wäre langweilig und verfälschend, trockene Thesen außerhalb ihres Zusammenhangs mit einem Leben zu formulieren. Denn – und das ist das Wichtige – Politik spielt sich nicht außerhalb des Lebens ab. Jede persönliche Geschichte ist der Grund dafür, dass wir uns überhaupt Gedanken um so etwas wie eine Gesellschaft machen.
    Ich will also dieses Kapitel kurz meiner eigenen Geschichte widmen, die deshalb interessant ist, weil ich aus einer Umgebung komme, in der mich nichts auf Politik vorbereitet hat. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit bin ich auf meinem Posten gelandet. Irgendwie aber auch wieder nicht entgegen aller Wahrscheinlichkeit. Denn die Geschichte meiner Familie – wie viele Geschichten von Migranten – lässt sich gut mit einem russischen Sprichwort erklären: »Wenn du dich nicht um Politik kümmerst, kümmert sich die Politik irgendwann um dich.« Viele Menschen sind Opfer von Systemen geworden, die sie nie zu beeinflussen gewagt oder vermocht haben. Diese Lektion musste ich irgendwann verstehen. Und hier liegt vielleicht der Schlüssel dazu, wie Menschen Verantwortung für eine Gesellschaft übernehmen.
    Ich wurde in eine auseinanderfallende Welt geboren. Kurz vor meiner Geburt flog unweit meines Heimatorts einAtomkraftwerk in die Luft. Einige sagen, es flog in die Luft, weil der Staat, in dem es existierte, so morsch war. Dass politische Entscheidungen in einem nicht mehr funktionalen System diesen Unfall provoziert hätten. Jedenfalls passierte es; und völlig ungeachtet dessen kam ich trotzdem zur Welt. Meine Familie lebte in Kiew, der riesigen, geschichtsschwangeren Stadt am Dnjepr, und existierte im normalen sowjetischen Alltag mit Milchkuchen und Basaren und gemusterten Tapeten. Wir hießen damals Onufriyenko, weil es angenehmer war, als den jüdischen Namen Weisband zu tragen. Den nahmen wir erst in Deutschland wieder an. Von diesen Befürchtungen und Namenswechseln wusste ich nichts, niemand hatte sich die Mühe gemacht, mit mir darüber zu sprechen. Meine Eltern arbeiteten beide, meine Mutter in einer Bank und mein Vater am Computer. Er war Programmierer – und Visionär. Er schrieb Artikel über objektorientierte Programmierung, als sich noch niemand dafür interessierte. Mir erzählte er von Sozionik, einer Theorie über zwischenmenschliche Zusammenarbeit, vom Unterbewusstsein und von vielem mehr. Wenn er mich irgendwo hinbrachte, las er dabei immer ein Buch und ging zu schnell. Ich habe das meiste von dem, was er mir erzählte, nicht verstanden, fand es aber immer interessant.
    Meine Mutter war sehr liebevoll und vom ersten Schwangerschaftsmonat an von glühender Leidenschaft für frühkindliche Bildung erfüllt. Sie las die Bücher von Boris und Lena Nikitin, die mit elf Kindern von frühstem Toilettentraining bis zu pädagogischem Spielzeug einen gewaltigen Erfahrungsschatz und viele Ratschläge im Bezugauf die Entwicklung von Kleinkindern hatten. Ich wuchs mit selbstgebastelten Würfeln, Puzzlespielen und unfassbar vielen Büchern und Gedichten auf. Ich liebte diese Welt der

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