Wir sind die Nacht
rasch anwachsende) Menschenmenge auf der anderen Seite, die ihrer Verärgerung darüber Ausdruck verlieh, nur einzeln und nach einer ausgiebigen Gesichtskontrolle passieren zu dürfen.
Statt ihrem Fluchtinstinkt nachzugeben, zwang sie sich, die fremde Maschine vom Ständer zu schieben und sie hinter einem Gemüsekarren vorbeizusteuern, um sie dann hinter dem Streifenwagen zu starten und in aller Ruhe loszufahren. Ihre Gedanken rasten dafür umso schneller. In welches Wespennest hatte sie da gestochen?
Wie es aussah, hatten Schmerbauch und sein gut aussehender Kollege nicht nur die gesamte Polizei der Stadt aufgeboten, sondern auch noch das SEK, die GSG 9 , den Großteil der Bundeswehr und vermutlich noch ein paar Bataillone Fremdenlegionäre; und vielleicht auch noch ein paar Taliban, die sich ein bisschen Taschengeld dazuverdienen wollten, um neue Bomben
zu basteln. Das ganze verdammte Viertel war abgeriegelt, und in der Ferne rückten noch mehr Sirenen an.
Natürlich war ihr längst klar, dass der Aufwand nicht ihr galt. Hier lief eine ganz andere und viel üblere Kiste ab, die vermutlich etwas mit dem Russen zu tun hatte, dessen Brieftasche in ihrer Jacke wie ein Stück weißglühendes Eisen brannte. Sie war im falschen Moment am falschen Ort gewesen, so einfach war das.
Unglückseligerweise half ihr diese Erkenntnis nicht im Geringsten dabei, aus dieser Falle zu entkommen. Unterm Strich war es auch einerlei, ob sie absichtlich oder ganz aus Versehen unter die Räder kam - wenn die Bullen sie erwischten, ob mit oder ohne die geklaute Russenmafia-Brieftasche, dann war ihre Bewährung futsch, und sie würde ihre nächsten beiden Geburtstage in einer gemütlichen Vierbettzelle mit Gittern vor den Fenstern und zwei übergewichtigen Lesben und einer Crack-Süchtigen auf Dauerentzug als Gesellschaft feiern. Herzlichen Dank auch.
Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, tauchte am anderen Ende der Straße ein weiterer Streifenwagen auf. Lena reagierte blitzschnell, schwenkte nach rechts und verschwand in einer schmalen Lücke zwischen zwei Häusern, die sie zuvor nicht wahrgenommen hatte.
Das Heulen der Polizeisirene, das sie bisher vermisst hatte, gellte nun umso lauter in ihren Ohren. Mit kreischenden Reifen kam der Streifenwagen kaum ein Dutzend Schritte hinter ihr zum Stehen. Sie zog den Gasgriff auf, und der kleine Roller jagte mit einem so gewaltigen Hüpfer los, dass sie erschrocken wieder Gas wegnahm. Gehetzt blickte sie über die Schulter zurück.
Die Türen des Streifenwagens waren aufgeflogen, und ein verdammt gut aussehender junger Polizeibeamter mit blondem Haar und in leicht ramponierten Designerklamotten stürzte so
hastig heraus, dass er beinahe über die eigenen Füße gestolpert wäre. Er fing sich aber sofort wieder und jagte hinter ihr her.
Verdammt, war der Junge gut! Zwar war es der unpassendste aller denkbaren Momente, aber wenn sie schon verhaftet werden würde, dann am liebsten von jemandem wie ihm.
Am allerliebsten allerdings gar nicht.
Lena erreichte das Ende der Gasse, und sofort sank ihr Mut wieder. Vor ihr befand sich zwar kein weiterer Streifenwagen (nicht einmal ein kümmerlicher Schützenpanzer, der mit einer Zwillingsflak auf sie zielte), sehr wohl aber ein Hindernis, das sich als genauso unüberwindlich erwies: Sie hatte den Kanal erreicht. Vor ihr lag ein lebensgefährlicher Hindernisparcours aus Steinen, Bauschutt, Müll und kümmerlichem Grün, der zu einem schmutzig grauen Band hinabführte, auf dem sich nur hier und da ein silberner Lichtsplitter brach … kein Fluchtweg weit und breit. Und in spätestens zehn Sekunden würde Blondie hinter ihr aus der Gasse stürmen.
Sie sprang blitzschnell vom Motorroller ab und steppte nach links, um wenigstens für die letzten zehn Sekunden Freiheit, die ihr noch blieben, unsichtbar zu sein, erinnerte sich daran, etwas Großes und Schwarzes in der Hand ihres Verfolgers gesehen zu haben, und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass es keine Pistole war. Vermutlich hatte sie ihn wütend genug gemacht, damit er das Ding auch benutzte.
Ihre Gedanken rasten. Bis zum Kanal hinunter waren es kaum drei Dutzend Schritte, aber die Idee, kurzerhand hineinzuspringen und ihm davonzuschwimmen, verwarf sie beinahe schneller, als sie ihr kam. Wasser war nicht unbedingt ihr Element, und wütend wie der Blondschopf mittlerweile war, traute sie ihm durchaus zu, dass er sein Yuppie-Outfit endgültig ruinierte, indem er ihr einfach
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