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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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verchromter Handschellen aus dem Hosenbund zu ziehen, legte er nur den Kopf auf die andere Seite, sah sie eine weitere Sekunde lang auf dieselbe unangenehm durchdringende Art an, ließ ihren Blick dann endlich los und seufzte; tief und ehrlich enttäuscht. Wenn er schauspielerte, dachte sie, dann eindeutig noch besser als sie.
    Unschlüssig sah er sich um, setzte dann dazu an, sich wegzudrehen, und tat es schließlich doch nicht, sondern hob stattdessen die Hand. Was sie in ihrer Panik für eine Pistole gehalten hatte, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als altmodisches Funkgerät, wie sie das letzte Mal in einem zehn Jahre alten Fernsehkrimi eines gesehen hatte.
    »Hier Tom. Wie sieht’s aus? Habt ihr ihn?«
    »Negativ«, drang die verrauschte Antwort aus dem kühlschrankgroßen Museumsstück. Alles andere hätte Lena auch gewundert.
    Tom. Der Name passte zu ihm. Wahrscheinlich hieß er in Wahrheit Thomas oder Torsten, aber Tom gefiel ihr eindeutig besser. Tom, der schon wieder den Enttäuschten spielte und sich nachdenklich einmal im Kreis drehte, bevor sich sein Blick wieder auf sie einpendelte und er wahrscheinlich angestrengt darüber nachdachte, an welchem Handgelenk er die Handschelle
befestigen sollte. Warum hörte er nicht endlich mit diesem unwürdigen Theater auf?
    Lena versuchte unauffällig, die Aldi-Tüte mit ihren verräterischen Kleidern vom Zeh zu schütteln, und begriff gerade noch rechtzeitig, dass ihm die Bewegung unmöglich entgehen konnte. Aber gut, besser eine Aldi-Tüte am Zeh als Handschellen an den Armen.
    Tom seufzte noch einmal und noch tiefer, sah sich mit demonstrativ gerunzelter Stirn um und steckte dann das Kreidezeit-Funkgerät ein. Lena schöpfte schon fast Hoffnung (vermischt mit einem ganz leisen Gefühl völlig absurder Enttäuschung), dass er jetzt aufgeben und endlich verschwinden würde, doch stattdessen wandte er sich nun endgültig zu ihr um. Er zog eine Grimasse und hob die linke Hand vor das Gesicht. Der Schnitt darin war nicht annähernd so tief wie der in Lenas Rechter, sah aber übel genug aus.
    »Darf ich mich einen Moment zu dir setzen … Ich darf doch du sagen, oder?«
    Er wartete die Antwort nicht ab, wischte sich mit der unversehrten Hand den Schweiß von der Stirn und setzte sich mit angezogenen Knien auf einen schmierigen Stein neben sie. Adieu, Boss-Hose. Jetzt waren sie wenigstens quitt, was ihre sauteuren Sneakers anging, die sie vor nicht einmal einer Woche geklaut hatte.
    Lena selbst nutzte die Gelegenheit, die Aldi-Tüte endgültig abzuschütteln und die Knie an den Leib zu ziehen, und es funktionierte auch ganz wunderbar. Noch besser wäre es allerhöchstens gewesen, hätte er die blau-gelbe Plastiktüte nicht bemerkt, die langsam vom Ufer wegtrieb und Fahrt aufnahm, als sie in die Strömung geriet. Gottlob war sie zu schnell, als dass er sie noch hätte herausfischen können.
    Er versuchte es auch erst gar nicht, sondern umschlang die Knie mit beiden Händen, blickte dann verdutzt auf den schmierigen
Blutfleck hinab, den seine linke Hand auf dem weißen Stoff hinterlassen hatte, und starrte schließlich ebenso verwirrt auf Lenas nackte Füße.
    »Du siehst ganz schön fertig aus«, sagte sie vielleicht eine Spur zu hastig. Sein Atem ging immer noch schnell und ein bisschen rasselnd, und nicht nur seine Stirn war nass vor Schweiß.
    »Bin ich auch«, antwortete er mit einem leicht verlegenen Lächeln. »Anscheinend werd ich langsam alt. Der Mistkerl war einfach zu schnell.«
    »Was hat er denn gemacht?«, fragte Lena.
    »Wer?«
    »Der Mistkerl, der einfach zu schnell für dich war«, antwortete sie.
    Tom grinste flüchtig und sah sie noch einmal ausgiebig von Kopf bis Fuß an, wobei sein Blick vielleicht einen Sekundenbruchteil zu lange auf dem zugegeben atemberaubenden Ausschnitt ihres geliehenen Kleides hängen blieb.
    »Eigentlich war das niemand Besonderes«, sagte er. »Ein kleiner Straßenköter, mehr nicht. Der arme Hund hatte einfach nur das Pech, an den Falschen zu geraten.«
    »An dich?«, stichelte Lena.
    Tom schüttelte ungerührt den Kopf. »Er hat’nen russischen Zuhälter beklaut, den wir gerade hochnehmen wollten.«
    »Oh«, machte Lena. Was für eine Überraschung.
    »Oh«, bestätigte Tom. »Ich wette, der Idiot hatte keine Ahnung, wessen Brieftasche er da mitgehen lässt.«
    »Wahrscheinlich war es ihm egal«, sagte Lena.
    »Du meinst, dass er uns fast den Einsatz versaut hat?« Tom wiegte den Kopf. »Oder dass er sich mit der

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