Wir zwei allein - Roman
Warum nicht einfach die Menschen gern haben? Ich habe keine Angst. Ich habe keine Angst vor irgendwas. Weißt du, in der Schweiz gibt es eine Burg. Ein Hotel und ein Kloster zugleich. Die Schwestern sind katholisch. Es gibt ein Schwimmbad und so weiter. Jetzt liegen wir hier, und es ist ja nur die Vorbereitung auf den Schlaf. Das Bett ist ein Möbelstück. Ich muss nachts oft aufs Klo. Und die Toilette, das ist das Gehirn des schlafenden Hauses, in dem die Träume stattfinden. Das Rauschen und Gurgeln aus den Leitungen, das sind die Geräusche der Gedanken. Und ich mache nie das Licht an. Verrückt, oder? Ich will das Haus nicht aufwecken. Ich will mich selbst nicht aufwecken. Man darf nichts und niemanden berühren, während man schlafwandelt. In diesem Zustand hat man Zauberkräfte. Die Gegenstände und Menschen werden in die Träume entführt. Man selbst kehrt am nächsten Morgen zurück. Aber sie nicht. Sie bleiben dort. Und irgendwann hast du nichts und niemanden mehr um dich. Die ganze Welt ist leer. Alle Menschen weggezaubert. Sie leben jetzt hinter einem Spiegel, sie tragen komische Hüte und sprechen rückwärts, und Pflanzen wachsen ihnen aus den Ohren. Sie singen wie Vögel, sie lachen wie Krokodile, sie plappern wie Hasen. Alle, die du mal kanntest, sind da. Und sie sind immer noch so alt wie damals, als du sie kanntest. Und auch du bist so alt wie damals, wenn du mit ihnen sprichst. Aber am nächsten Morgen wachst du auf, und die Straße ist leer, und deine Freunde gehen nicht ans Telefon, und in den Geschäften steht niemand mehr an der Kasse. Diese Burg ist in Wahrheit ein Hospital. Aber das merkt man nicht.
Theres, sage ich. Du phantasierst. Wir liegen hier in meiner Wohnung. Es ist mitten in der Nacht, wir müssen morgen beide arbeiten.
Aber warum?, ruft sie. Wir könnten einfach zu Hause bleiben. Oder nach Italien fahren.
Sicher können wir nach Italien fahren. Wir nehmen uns im Sommer Urlaub, und dann fahren wir nach Italien.
Und warum nicht sofort?, fragt sie.
Sie schlägt die Decke zurück. Ihre Gestalt als Schatten vor dem Fenster.
Was machst du?, frage ich.
Ich gehe heim, sagt sie. Ihre Schritte auf dem Parkett, ihre Gestalt bückt sich, verschwindet, taucht wieder auf. Im Grunde hast du ja recht, sagt sie.
Womit?
Mit allem. Dass man allein ist.
Wie meinst du das?
Ihre Hose raschelt, der Stuhl quietscht.
Dass man heute diese Person kennt und morgen eine andere, sagt sie. Und eines Tages sind die Straßen leer.
So etwas habe ich nie gesagt. Theres?
Ich richte mich auf, die Lampe kippt um, als ich nach dem Schalter taste. Ich stelle sie wieder auf und knipse sie an. Ich muss die Augen schließen, Lichtformen tanzen in der Dunkelheit.
Theres?, rufe ich.
Der Stuhl, der Schrank, meine Beine unter der Decke, das Fenster. Ich höre noch, wie die Wohnungstür ins Schloss fällt, dann ist es still.
Auf dem Parkett, neben meinen Hausschuhen, liegt meine Unterhose. In einem der Hosenbeine liegt ein zusammengeknülltes Taschentuch. Darin klebt ein gekraustes schwarzes Haar, glänzend, das Beinchen eines Weberknechts. Es kann gar nicht sein. Und doch. Ich rieche die klebrige Flüssigkeit. Hering, Gurke, vielleicht ein bisschen schwarzer Tee.
Unten fällt die Haustür ins Schloss. Theres’ Schritte auf der Straße, die sich entfernen, dann Stille.
21 Mehr Salz. Ich will meine Suppe versalzen. Ich will, dass sie zu einer Salzlake wird, in der meine Zunge wie Schafskäse schwimmt. Ich will, dass meine Zunge zum Trinkhalm wird für die Osmosebrühe, die mich aussaugen soll, jeden Tropfen aus dem hintersten Winkel, so dass eine sehnige Mumie aus mir wird, die bei jeder Berührung zerbröseln kann. Bringt mehr Salz, trocknet mich aus, entfernt alle Feuchtigkeit. Wringt mich aus, dampft mich ein, dampft mich aus. Dass kein Wort mehr meine Kehle hochkommt, dass der Staub meine Stimmbänder eindeckt. Dass meine Luftröhre entzweibricht.
22 Ich bin nur zufällig am Bahnhof vorbeigekommen. Aber gibt es Zufälle überhaupt? Ich habe nur eine Packung Toastbrot kaufen wollen, weil Sonntag ist. Habe die Rolltreppe nehmen wollen, weil die Rolltreppe ein bestimmtes Lebensgefühl bedeutet. Habe einen genauen Plan gehabt: In die Katakomben hinab, wo es dröhnt von den Gleisen über dem Kopf, wo die Toiletten sind und wo eine Frauenstimme von süddeutschen Städten träumt. Eine Packung Toast und ein Stück Käse, ein genauer Plan. Rein in den Bahnhof, weil die Geschäfte sonntags geschlossen
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