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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Ruth gehörte nicht zu den Kindern, die Sachen, die sie nicht kannten, in den Mund steckten. Doch ungeachtet der Gefahren, die in Teds Werkstatt lauern mochten, erübrigte es sich, Ruth irgendwelche Verbote aufzuerlegen oder gar ein Schloß an der Tür anzubringen. Der Geruch der Sepiatinte genügte schon, um das Kind fernzuhalten.
    Auch Marion wagte sich nicht in die Nähe von Teds Werkstatt, doch es mußten noch zwanzig Jahre vergehen, ehe Ruth begriff, daß nicht nur die Sepiatinte ihre Mutter ferngehalten hatte. Marion wollte auf jeden Fall vermeiden, Teds Modellen zu begegnen oder sie auch nur von fern zu sehen – nicht einmal die Kinder, da diese nie ohne ihre Mütter zum Modellstehen kamen. Erst nachdem die Kinder ein halbes dutzendmal (oder öfter) Modell gestanden hatten, kamen die Mütter allein. Ruth stellte sich als Kind nie die Frage, warum in den Büchern ihres Vaters kaum Zeichnungen von Müttern mit Kindern vorkamen. Da seine Bücher für Kinder bestimmt waren, enthielten sie natürlich keine Aktzeichnungen, obwohl Ted viele Akte zeichnete; von den jungen Müttern existierten buchstäblich Hunderte von Aktzeichnungen.
    Zu diesen Aktzeichnungen pflegte Ruths Vater anzumerken: »Sie sind eine unverzichtbare Voraussetzung für jeden Zeichner, Ruthie.« Wie Landschaften, vermutete sie anfangs, auch wenn sich Ted kaum mit Landschaften beschäftigte. Ruth glaubte immer, sein mangelndes Interesse an Landschaften könnte mit der Gleichförmigkeit und der extremen Flachheit der gesamten Umgebung zu tun haben, die sich wie eine Landebahn zum Meer hin erstreckte, oder auch mit der von ihr so empfundenen Gleichförmigkeit und extremen Flachheit des Meeres – und erst recht mit dem unendlich weiten, sich häufig lustlos darüber hinziehenden Himmel.
    Ihr Vater schien sich so wenig aus Landschaften zu machen, daß Ruth erstaunt war, als er sich später über die neuen Häuser aufregte, die er als »architektonische Mißgeburten« bezeichnete. Diese neuen Häuser erstanden ohne jede Vorwarnung und störten das Bild der flachen Kartoffelfelder, auf die die Coles einst im wesentlichen geblickt hatten.
    »Es gibt keine Rechtfertigung für Bauten von derart experimenteller Häßlichkeit«, verkündete Ted beim Abendessen jedem, der es hören wollte. »Wir befinden uns doch nicht im Krieg. Es ist absolut nicht nötig, solche Häuser zur Abschreckung von Fallschirmjägern zu bauen.« Aber Teds Klagen nutzten sich mit der Zeit ab; die Architektur der Sommerdomizile in diesem Teil der Welt, den sogenannten Hamptons, und ihre Bewohner waren nicht annähernd so interessant – weder für Ruth noch für ihren Vater – wie die fest hier ansässigen Aktmodelle.
    Weshalb ausgerechnet verheiratete junge Frauen? Weshalb lauter junge Mütter? Als Ruth aufs College ging, gewöhnte sie sich an, ihrem Vater direktere Fragen zu stellen als je zuvor. In dieser Zeit kam ihr auch zum erstenmal ein beunruhigender Gedanke. Welche Frauen mochten ihm sonst noch Modell stehen oder, für noch kürzere Zeit, seine Geliebten sein? Mit wem traf er sich sonst noch? Die jungen Mütter erkannten ihn natürlich und sprachen ihn an.
    »Mr. Cole? Ich kenne Sie, Sie sind Ted Cole! Ich wollte nur sagen – meine Tochter ist nämlich zu schüchtern –, daß Sie ihr Lieblingsautor sind. Sie haben ihr absolutes Lieblingsbuch geschrieben …« Und dann wurde die widerstrebende Tochter (oder der verlegene Sohn) nach vorn geschoben, um Ted die Hand zu geben. Wenn Ted die Mutter attraktiv fand, machte er den Vorschlag, das Kind könnte ihm vielleicht Modell stehen, zusammen mit der Mutter natürlich – zum Beispiel für sein nächstes Buch. (Den Vorschlag, daß die Mutter allein – und nackt – Modell stehen könnte, sparte er sich für einen späteren Zeitpunkt auf.)
    »Aber die meisten dieser Frauen sind doch verheiratet, Daddy«, gab Ruth zu bedenken.
    »Ja … vermutlich sind sie deshalb so unglücklich, Ruthie.«
    »Wenn dir deine Akte so wichtig wären, ich meine, deine Aktzeichnungen, würdest du professionelle Modelle nehmen«, sagte Ruth. »Aber wahrscheinlich waren dir die Frauen schon immer wichtiger als die Aktzeichnungen.«
    »Für einen Vater ist es schwer, seiner Tochter das zu erklären, Ruthie. Aber … wenn ein Akt Nacktheit vermitteln soll – damit meine ich, wie es sich anfühlt, nackt zu sein –, gibt es keine Form von Nacktheit, die sich mit dem Gefühl vergleichen läßt, das erste Mal nackt vor jemandem zu stehen.«
    »Soviel zu

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