Witwe für ein Jahr (German Edition)
der mittleren Reihe, so, als wäre er um ein Haar zu spät zum Fotografieren gekommen und in letzter Sekunde scheinbar ganz cool und desinteressiert ins Bild geschlüpft. Während sich einige andere in Positur geworfen hatten und der Kamera bewußt ihr Profil zuwandten, starrte Eddie direkt in die Linse. Wie schon auf den Fotos im Jahrbuch 1957 wirkte er aufgrund seiner beängstigenden Ernsthaftigkeit und seines hübschen Gesichts älter, als er war.
Was auch immer an ihm »literarisch« sein mochte, die einzig erkennbaren Komponenten waren sein dunkles Hemd und eine noch dunklere Krawatte. Es war eines jener Hemden, die normalerweise nicht mit Krawatte getragen werden. (Marion mußte daran denken, daß Thomas diesen Aufzug auch gern gemocht hatte; Timothy, der jünger oder konventioneller oder auch beides war, nicht.) Marion fand es deprimierend, sich den Inhalt des Pendels auszumalen: düstere Gedichte und quälend autobiographische Geschichten von Halbwüchsigen – literarisch ambitionierte Varianten des Themas: »Wie ich die Sommerferien verbrachte«. Jungen in diesem Alter sollten sich an Sport halten, dachte Marion. (Thomas und Timothy hatten sich nur an Sport gehalten.)
Plötzlich machte das windige, wolkige Wetter sie frösteln – vielleicht fröstelte sie auch aus anderen Gründen. Sie klappte das Jahrbuch zu und setzte sich in den Wagen, wo sie es wieder aufschlug und ans Lenkrad lehnte. Jeder, der Marion wieder ins Auto hatte steigen sehen, hatte ihre Hüften betrachtet. Man konnte einfach nicht anders.
Apropos Sport: Eddie O’Hare lief nach wie vor. Da war er, ein Jahr mehr Muskeln am Leib, auf den Fotos der beiden Juniorenmannschaften: Geländelauf und Kurzstreckenlauf. Warum läuft er? fragte sich Marion. (Ihre Söhne hatten eine Vorliebe für Fußball und Hockey gehabt, und im Frühjahr hatte Thomas Lacrosse gespielt, und Timothy hatte es mit Tennis versucht. Keinen von beiden reizte der Lieblingssport ihres Vaters: Ted spielte einzig und allein Squash.)
Wenn Eddie O’Hare weder im Geländelauf noch im Kurzstreckenlauf aus der Juniorenmannschaft in die Schulmannschaft aufgestiegen war, bedeutete das wohl, daß er nicht besonders schnell lief oder keinen großen Ehrgeiz hatte. Doch ganz gleich, wie schnell oder ehrgeizig er lief, seine nackten Schultern lenkten erneut die unbewußte Aufmerksamkeit von Marions Zeigefinger auf sich. Ihr Nagellack war mattrosa und genau auf ihren Lippenstift abgestimmt, dessen Rosaton mit etwas Silber durchsetzt war. Es ist durchaus denkbar, daß Marion Cole im Sommer 1958 eine der schönsten Frauen ihrer Zeit war.
Sie spürte auch wirklich keinerlei bewußtes sexuelles Interesse, als sie die Konturen von Eddies nackten Schultern nachfuhr. Daß die zwanghafte Intensität, mit der sie junge Männer in Eddies Alter betrachtete, erotische Dimensionen annehmen könnte, ahnte zu diesem Zeitpunkt einzig und allein ihr Mann. Während er seinem sexuellen Instinkt vertraute, war Marion in dieser Beziehung zutiefst verunsichert.
Schon so manche Ehefrau hat die kränkenden Seitensprünge eines treulosen Ehemanns toleriert, ja sogar akzeptiert; Marion nahm sie bei Ted in Kauf, weil sie selbst sehen konnte, daß seine vielen Frauen keine nachhaltige Rolle in seinem Leben spielten. Hätte er eine andere Frau gehabt, eine, die ihn ganz in ihren Bann zog, hätte Marion sich vielleicht dazu durchgerungen, ihn vor die Tür zu setzen. Aber Ted behandelte sie nie schlecht; vor allem nach dem Tod von Thomas und Timothy blieb er ihr gegenüber gleichbleibend liebevoll und zärtlich. Schließlich hätte außer ihm auch niemand ihren abgrundtiefen Kummer begreifen und respektieren können.
Doch jetzt herrschte ein furchtbares Ungleichgewicht zwischen den beiden. Sogar der vierjährigen Ruth war aufgefallen, daß ihre Mutter viel trauriger war als ihr Vater. Und noch ein Ungleichgewicht bestand, das Marion nie im Leben würde wettmachen können: Ted war Ruth ein besserer Vater als sie ihr eine Mutter. Dabei war Marion für ihre Söhne immer der weitaus wichtigere und überlegene Elternteil gewesen! In letzter Zeit haßte sie Ted beinahe, weil er seinen Kummer besser hinunterschlucken konnte als sie. Daß Ted sie womöglich dafür haßte, daß sie ihm im Trauern überlegen war, konnte Marion nur vermuten.
Sie war überzeugt, daß es falsch gewesen war, noch ein Kind zu bekommen. In jeder Phase des Heranwachsens erinnerte Ruth ihre Eltern unweigerlich an die entsprechenden Zeiten mit
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