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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Juni 1958 auf die Fähre aus New London wartete, die Eddie O’Hare über den Long Island Sound bringen sollte, war Ebbe, und Marion bemerkte gleichgültig, daß die Pfahlwand des Fähranlegers bis zur Flutmarke naß war; oberhalb waren die Pfähle trocken. Über der leeren Rampe hing ein lärmender Chor Möwen in der Luft; dann schwenkten die Vögel dicht über dem gekräuselten Wasser ab, das im unbeständigen Sonnenlicht andauernd die Farbe wechselte – von Schiefergrau zu Blaugrün und dann wieder zu Grau. Die Fähre war noch nicht in Sicht.
    Nicht einmal ein Dutzend Autos parkten in der Nähe des Anlegers. In Anbetracht der Tatsache, daß die Sonne nicht verweilen wollte und der Wind aus Nordosten blies, warteten die meisten Fahrer in ihren Autos. Anfangs hatte Marion neben ihrem Wagen gestanden, an den vorderen Kotflügel gelehnt; dann setzte sie sich darauf und schlug auf der Kühlerhaube das Exeter-Jahrbuch 1958 auf. Und hier, in Orient Point, auf der Kühlerhaube ihres Wagens, sah sich Marion die neuesten Fotos von Eddie O’Hare zum erstenmal genau an.
    Marion haßte es, zu spät zu kommen, und sie hatte unweigerlich eine schlechte Meinung von Leuten, die unpünktlich waren. Ihr Wagen stand ganz vorn in der Spur der Abholer, die auf die Ankunft der Fähre warteten. Auf dem Parkplatz, auf dem die Passagiere warteten, die mit der Fähre nach New London fahren wollten, stand eine längere Autoschlange. Aber Marion achtete nicht auf die Leute; sie betrachtete selten andere Menschen, wenn sie ausging, was selten vorkam.
    Doch alle sahen sie an. Sie konnten einfach nicht anders. Als Marion Cole an jenem Tag in Orient Point wartete, war sie neununddreißig. Sie sah aus wie neunundzwanzig oder noch etwas jünger. Während sie auf dem Kotflügel ihres Wagens saß und die Seiten des Jahrbuchs 1958 in den ungestümen Windböen aus Nordosten niederzuhalten versuchte, waren ihre hübschen und noch dazu langen Beine weitgehend unter einem Wickelrock in einem nichtssagenden Beigeton verborgen. Die Paßform ihres Rocks jedoch war alles andere als nichtssagend – er saß wie angegossen. Sie trug ein extrem weites, weißes T-Shirt, das sie in den Bund gesteckt hatte, und darüber eine nicht zugeknöpfte Kaschmirjacke in dem gleichen verblichenen Rosa wie die Innenseiten bestimmter Muscheln – einem Hellrosa, dem man eher an einer tropischen Küste begegnen mochte als an dem keineswegs exotischen Strand von Long Island.
    Als der Wind auffrischte, zog Marion die Jacke fester um sich. Das T-Shirt saß sehr lose, aber sie hatte einen Arm unter der Brust um sich geschlungen. Daß sie eine lange Taille hatte, war unübersehbar; daß ihre vollen Brüste etwas herabhingen, aber wohlgeformt waren und natürlich wirkten, war ebenfalls unübersehbar. Ihr schulterlanges, gewelltes Haar veränderte in der mit den Wolken Versteck spielenden Sonne seine Farbe von Bernstein zu Honigblond, und ihre leicht gebräunte Haut schien zu leuchten. Sie war nahezu makellos.
    Bei näherer Betrachtung jedoch hatte ihr eines Auge etwas Irritierendes. Ihr Gesicht war mandelförmig, genau wie ihre Augen, die eigentlich dunkelblau waren; doch in der Iris des rechten Auges befand sich ein sechseckiger hellgelber Fleck. Es sah aus, als wäre ihr ein Brillantsplitter oder ein Eissplitter ins Auge gefallen, der nun ständig die Sonne reflektierte. Je nach Lichteinfall bewirkte dieses gelbe Fleckchen, daß die Farbe ihres rechten Auges von Blau zu Grün wechselte. Fast ebenso beunruhigend war Marions vollkommener Mund. Doch ihr Lächeln, wenn sie denn lächelte, war voller Wehmut. Seit fünf Jahren hatten nur wenige Menschen sie überhaupt lächeln sehen.
    Während Marion im Exeter-Jahrbuch nach den aktuellsten Fotos von Eddie O’Hare suchte, runzelte sie unwillkürlich die Stirn. Vor einem Jahr war Eddie im Sportclub gewesen, jetzt nicht mehr. Im vergangenen Jahr war er noch Mitglied des Junior-Debattierclubs; in diesem Jahr gehörte er ihm nicht mehr an, war aber auch nicht in die erlesene Riege der sechs jungen Männer aufgerückt, aus denen der Debattierkreis der Schule bestand. Hatte er beides einfach so aufgegeben? fragte sich Marion. (Ihre eigenen Jungen hatten auch nichts für Clubs und dergleichen übrig gehabt.)
    Doch dann entdeckte sie ihn etwas verloren inmitten einer Gruppe selbstgefällig und großspurig wirkender junger Männer, die das Exeter-Literaturmagazin Pendel herausgaben und auch die meisten Beiträge beisteuerten. Eddie stand am Rand

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