Witwe für ein Jahr (German Edition)
Noch als erwachsene Frau und renommierte Romanautorin konnte sie diese Zeile weder hören noch aussprechen, ohne eine Gänsehaut zu bekommen.
»Tom wachte auf, Tim aber nicht. Es war mitten in der Nacht. ›Hast du das gehört?‹ fragte Tom seinen Bruder. Aber Tim war erst zwei. Auch wenn er wach war, sprach er nicht viel.
Tom weckte seinen Vater auf und fragte ihn: ›Hast du dieses Geräusch gehört?‹
›Wie hat es sich denn angehört?‹ wollte sein Vater wissen.
›Wie ein Monster mit ohne Arme und ohne Beine, aber es hat versucht, sich zu bewegen‹, sagte Tom.
›Wie kann es sich denn ohne Arme und ohne Beine bewegen?‹ fragte der Vater.
›Es zappelt hin und her‹, sagte Tom. ›Es rutscht auf seinem Fell.‹
›Ach, es hat also ein Fell?‹ fragte der Vater.
›Es zieht sich mit den Zähnen vorwärts‹, sagte Tom.
›Und Zähne hat es auch!‹ rief der Vater.
›Ich hab dir doch gesagt, daß es ein Monster ist!‹ sagte Tom.
›Aber was war das denn für ein Geräusch, von dem du aufgewacht bist?‹ fragte der Vater.
›Es war so ein Geräusch, wie wenn in Mummys Schrank ein Kleid lebendig wird und von seinem Kleiderbügel runterklettern will‹, sagte Tom.«
Bis an ihr Lebensende sollte Ruth Cole Angst vor Schränken haben. Wenn in einem Zimmer eine Schranktür offenstand, konnte sie nicht einschlafen; sie mochte es nicht, wenn sie die Kleider da hängen sah. Sie mochte überhaupt keine Kleider. Und als Kind machte sie nie eine Schranktür auf, wenn es im Zimmer dunkel war, weil sie Angst hatte, ein Kleid könnte sie in den Schrank hineinziehen.
»›Komm, wir gehen wieder in dein Zimmer und horchen, ob wir das Geräusch hören können‹, schlug Toms Vater vor. Und da lag Tim und schlief immer noch; er hatte das Geräusch noch immer nicht gehört. Es war ein Geräusch, wie wenn jemand die Nägel aus den Bodenbrettern unter dem Bett zieht. Es war ein Geräusch, wie wenn ein Hund versucht, eine Tür aufzumachen. Sein Maul ist feucht, und deshalb bekommt er den Türknauf nicht richtig zu fassen, aber er gibt nicht auf. Irgendwann kommt der Hund herein, dachte Tom. Es war ein Geräusch, wie wenn ein Gespenst in der Mansarde die Erdnüsse fallen läßt, die es aus der Küche stibitzt hat.«
Als Ruth die Geschichte zum erstenmal hörte, unterbrach sie ihren Vater an dieser Stelle, weil sie wissen wollte, was eine Mansarde ist. »Das ist ein großer Raum über allen Schlafzimmern«, erklärte er. Da das Haus der Coles keine Mansarde hatte, jagte ihr die unbegreifliche Vorstellung, daß es so einen Raum geben könnte, Angst ein.
»›Da ist es wieder, das Geräusch!‹ flüsterte Tom seinem Vater zu. ›Hast du es gehört?‹ Diesmal wachte auch Tim auf. Es war ein Geräusch, wie wenn etwas im Kopfbrett des Bettes eingesperrt wäre und sich nach draußen frißt, sich durch das Holz nagt.«
An dieser Stelle unterbrach Ruth ihren Vater noch einmal; ihr Stockbett hatte kein Kopfteil, und sie wußte auch nicht, was »nagen« bedeutet. Ihr Vater erklärte es ihr.
»Tom war fest davon überzeugt, daß das Geräusch von einem armlosen, beinlosen Monster stammt, das auf seinem dicken, nassen Fell dahinrutscht. ›Es ist ein Monster!‹ schrie Tom.
›Es ist nur eine Maus, die in der Wand krabbelt‹, beruhigte ihn sein Vater.
Tim kreischte auf. Er hatte noch nie eine Maus gesehen. Und er bekam Angst, wenn er sich vorstellte, daß irgend so ein Ding mit einem dicken, nassen Fell – und ohne Arme und Beine – in der Wand herumkrabbelte. Wie war es überhaupt da hineingelangt?
Aber da fragte Tom seinen Vater: ›Ist es wirklich nur eine Maus?‹
Der Vater klatschte mit der Hand an die Wand, und sie hörten die Maus davonflitzen. ›Wenn sie zurückkommt‹, sagte er zu Tom und Tim, ›dann schlagt einfach an die Wand.‹
›Eine Maus, die in der Wand krabbelt!‹ sagte Tom. ›Das war alles!‹ Er schlief bald wieder ein, und der Vater ging auch wieder ins Bett und schlief ein, nur Tim lag die ganze Nacht wach, weil er nicht genau wußte, wie eine Maus aussieht, und wach sein wollte, wenn dieses Ding, das in der Wand rumkrabbelte, wieder angekrabbelt kam. Sooft er meinte, die Maus in der Wand krabbeln zu hören, schlug er mit der Hand an die Wand, und die Maus flitzte davon – mit ihrem dicken, nassen Fell und mit ohne Arme und ohne Beine.
Und das …«, sagte Ruths Vater, dessen Geschichten alle gleich endeten.
»Und das …«, wiederholte Ruth mit ihm zusammen, »ist das Ende der
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