Wo bist du
mit knapp zweihundert-vierzig Stundenkilometern über dessen Nordküste.
Kapitel 1
Newark Airport. Das Taxi hat sie am Bürgersteig abgesetzt und taucht im Strom der Fahrzeuge unter, die um den Passagierterminal kreisen; sie sieht zu, wie es in der Ferne verschwindet. Der große grüne Seesack zu ihren Füßen wiegt fast so viel wie sie selbst. Sie hebt ihn hoch, zieht eine Grimasse, legt den Riemen über die Schulter. Sie geht durch die automatische Tür des Terminals 1, durchquert die Eingangshalle und geht ein paar Stufen hinab; zu ihrer Rechten eine Wendeltreppe. Trotz der schweren Last steigt sie die Stufen hinauf und eilt entschlossen den Gang entlang. Vor der Fensterfront einer Bar, die in orangefarbenes Licht getaucht ist, bleibt sie stehen und schaut hinein. Auf die Resopaltheke gestützt, schlürfen ein paar Männer ihr Bier und kommentieren lauthals die Spielergebnisse, die auf dem Bildschirm des Fernsehers an der Wand zu sehen sind. Sie stößt die Holztür mit dem großen Bullauge auf, tritt ein, schaut suchend über die roten und grünen Tische hinweg.
Sie sieht ihn ganz hinten an der Fensterfront, die auf die Asphaltrollbahn blickt. Er hat das Kinn auf die rechte Hand gestützt, während die linke über die Papierdecke huscht und ein Gesicht darauf zeichnet.
Seine Augen, die sie noch nicht sehen kann, wandern immer wieder zur gelben Rollbahnmarkierung, die den Flugzeugen den genauen Weg zur Startbahn weist. Sie zögert, entscheidet sich für den rechten Gang, der sie geradewegs auf ihn zuführt, ohne dass er sie sehen kann. Sie geht an der summenden Gefriertruhe vorbei und nähert sich mit schnellen und doch leisen Schritten. Bei ihm angelangt, legt sie ihm die Hand auf den Kopf und zerzaust ihm zärtlich das Haar. Auf dem gewaffelten Papier erkennt sie ihr eigenes Porträt.
»Habe ich dich warten lassen?«, fragt sie.
»Nein, du bist fast pünktlich. Aber ab jetzt wirst du mich warten lassen.« »Bist du schon lange da?«
»Ich hab keine Ahnung. Wie hübsch du bist! Komm, setz dich.«
Sie lächelt und schaut auf ihre Uhr.
»Mein Flugzeug geht in einer Stunde.«
»Ich werde alles tun, damit du's verpasst, damit du es niemals nimmst.«
»Gut, dann fliege ich eben in zwei Minuten!«, sagt sie und setzt sich neben ihn.
»Okay, okay, ich verspreche dir: kein Kommentar mehr. Ich hab dir was mitgebracht.«
Er legt eine schwarze Plastiktüte auf den Tisch und schiebt sie ihr mit dem Zeigefinger hin. Sie neigt den Kopf zur Seite, ihre Art zu fragen: Was ist das wohl? Und da er ihre Mimik und den Ausdruck ihrer Augen zu deuten weiß, antwortet er: »Mach auf, du wirst schon sehen.« Es ist ein kleines Fotoalbum.
Er fängt an, darin zu blättern. Auf der ersten Seite, in Schwarz-Weiß, ein Mädchen und ein Junge von zwei Jahren, die sich, jeder die Hände auf den Schultern des anderen, gegenüberstehen.
»Das ist das älteste Foto, das ich von uns beiden gefunden habe«, sagt er.
Er blättert weiter.
»Dies hier sind wir beide irgendwann um Weihnachten, ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr, aber wir waren noch keine zehn. Ich glaube, es war das Jahr, als ich dir mein Taufmedaillon geschenkt habe.«
Susan greift in ihren Ausschnitt und zieht das Kettchen mit dem Anhänger der heiligen Teresia hervor, das sie niemals ablegt. Ein paar Seiten weiter unterbricht sie ihn und kommentiert nun selbst:
»Das waren wir mit dreizehn im Garten deiner Eltern, ich hatte dich gerade geküsst, und du meintest: Das ist ja widerlich!, als ich meine Zunge in deinen Mund schieben wollte. Und das hier war zwei Jahre später; diesmal fand ich es widerlich, als du mit mir schlafen wolltest.«
Bei der nächsten Seite ergreift wieder Philip das Wort und zeigt auf ein weiteres Foto.
»Und wenn ich mich recht entsinne, fandest du's ein Jahr später, nach diesem Fest hier, überhaupt nicht mehr widerlich.«
Jede Seite, jedes Foto stellt eine Epoche ihrer gemeinsamen Kindheit dar. Sie unterbricht ihn.
»Du hast ein halbes Jahr übersprungen; gibt es kein Foto von der Beerdigung meiner Eltern? Genau damals fand ich dich ungeheuer attraktiv!«
»Hör auf mit dem Blödsinn, Susan!«
»Das meine ich ernst. Es war das erste Mal, dass du mir stärker vorkamst als ich, das hat mir unheimlich gut getan. Weißt du, ich werde nie vergessen ...«
»Hör auf damit ... «
.. dass du es warst, der meiner Mutter während der Totenwache den Trauring vom Finger gezogen hat ...«
»Gut, könnten wir jetzt das Thema
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