Wo die Nacht beginnt
gefiederten Ende seines Kiels auf den Zettel. Das Mädchen hatte für Kit Marlowe gearbeitet. Vielleicht spionierte sie für seine Konkurrenten. Er konnte es sich nicht leisten, dass jemand von seiner jüngsten Suche nach einem spendablen Förderer erfuhr. Nachdem wegen der Pest alle Theaterhäuser geschlossen waren, wurde es immer schwerer, Körper und Geist zusammenzuhalten. Venus und Adonis konnte ihm dabei helfen – vorausgesetzt, niemand stahl ihm diese Idee unter der Nase weg.
»Nichts, M-M-Master Shakespeare«, stammelte Annie und bückte sich, um das Papier aufzuheben.
»Wenn es nichts ist, dann bring es mir«, befahl er ihr.
Sobald Shakespeare den Zettel in Händen hielt, erkannte er die Schrift darauf. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Es war eine Botschaft aus dem Jenseits.
»Wann hat Marlowe dir das gegeben?«, fragte Shakespeare scharf.
»Gar nicht, Master Shakespeare.« Annie besaß kaum andere typische Hexeneigenschaften, aber dafür Ehrlichkeit im Übermaß. »Er hatte ihn versteckt. Vater Hubbard fand ihn und schenkte ihn mir. Zur Erinnerung, wie er sagte.«
»Hast du das erst nach Marlowes Tod gefunden?«
»Ja«, flüsterte Annie.
»Dann werde ich es dir abnehmen. Und für dich aufbewahren.«
»Natürlich.« Ängstlich und nervös beobachtete Annie, wie Christopher Marlowes letzte Worte in der geschlossenen Faust ihres neuen Herrn verschwanden.
»Und jetzt geh wieder an die Arbeit, Annie.« Shakespeare wartete, bis die Magd neue Lumpen und frisches Wasser holen gegangen war. Dann überflog er die Zeilen.
Schwarz ist die Livrei verlor’ner Liebe.
Des Dämons Farbe
Und der Nächte Schatten.
Shakespeare seufzte. Kits Metrik ergab für ihn einfach keinen Sinn. Und seine melancholischen Verse und morbiden Phantasien waren viel zu düster für diese schweren Zeiten. Das Publikum wollte so etwas nicht hören, und in London starben ohnehin genug Menschen. Er zwirbelte den Federkiel in den Fingern.
Verlor’ne Liebe. Wie wahr. Er hatte wirklich oft genug über die wahre Liebe geschrieben, trotzdem schienen seine zahlenden Kunden dessen nie überdrüssig zu werden. Er strich die Worte durch und ersetzte sie durch ein anderes, das eher einfing, was er empfand.
Dämonen . Dass Kit mit seinem Faustus solchen Erfolg gehabt hatte, nagte immer noch an ihm. Shakespeare fehlte die Gabe, über Kreaturen jenseits der natürlichen Beschränkungen zu schreiben. Er hatte es eher mit gewöhnlichen, mit Fehlern behafteten Menschen, die sich in den Schlingen des Schicksals verfingen. Manchmal glaubte er, eine gute Gespenstergeschichte gefunden zu haben. Vielleicht über einen Vater, den man verraten hatte und der jetzt seinen Sohn heimsuchte. Shakespeare schauderte. Sollte der himmlische Vater der Gesellschaft John Shakespeares überdrüssig werden, wenn dereinst die letzten Rechnungen beglichen würden, würde dieser einen grässlichen Geist abgeben. Er strich das beleidigende Wort aus und wählte ein anderes.
Der Nächte Schatten. Es war ein mattes, vorhersehbares Ende dieser Verse – wie es zu George Chapman passen würde, dem nie etwas Originelles einfiel. Aber welches Ende wäre besser? Er löschte ein weiteres Wort und schrieb Tracht darüber. Tracht der Nacht. Das klang auch nicht richtig. Er strich es wieder durch und schrieb Schrei darüber. Das war fast genauso schlimm.
Shakespeare fragte sich, was aus Marlowe und seinen Freunden geworden war, die sich allesamt zu Schattengestalten verflüchtigt hatten. Henry Percy genoss zurzeit das Wohlwollen der Königin, was selten genug vorkam, und weilte darum ständig bei Hofe. Raleigh hatte heimlich geheiratet und war deswegen bei Elisabeth in Ungnade gefallen. Er war nach Dorset verbannt worden, wo man ihn, wie die Königin hoffte, bald vergessen würde. Harriot hatte sich in die Einsamkeit zurückgezogen und beschäftigte sich ohne Zweifel mit irgendwelchen mathematischen Rätseln, wenn er nicht wie ein Mondsüchtiger den Himmel anstarrte. Den Gerüchten zufolge weilte Chapman auf Cecils Geheiß irgendwo in den Niederlanden und verfasste dort ermüdende Gedichte über Hexen. Und Marlowe war erst jüngst in Deptford zu Tode gekommen, durch ein Attentat, wenn man dem Gerede glauben wollte. Vielleicht wusste dieser merkwürdige Franzmann mehr darüber, schließlich hatte er mit Marlowe in der Taverne gesessen. Roydon – der einzige wirklich wehrhafte Mann, dem Shakespeare je begegnet war – und seine mysteriöse Frau waren im Sommer 1591 von einem
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