Wo die Nacht beginnt
schöne, hagere Gesicht meines Mannes. Inzwischen wusste ich, wie stark es von Erfahrungen und Leid geformt worden war. Meine eine Hand schmiegte sich wie von selbst an meinen Bauch, während die andere nach ihm griff, um ihm den Trost zu spenden, nach dem er sich so sehnte.
Seine Finger griffen meine und drückten sie kurz, dann gab Matthew mich wieder frei, und wir fuhren schweigend weiter. Aber schon bald trommelten meine Finger ein ungeduldiges Solo auf meinen Schenkel, und mehrmals war ich versucht, das Schiebedach zu öffnen und zum Haupttor der Burg zu fliegen.
»Wage es bloß nicht.« Matthews breites Lächeln milderte die Mahnung in seiner Stimme ab. Ich erwiderte sein Lächeln, während er vor einer Haarnadelkurve herunterschaltete.
»Dann beeil dich.« Ich konnte mich kaum noch beherrschen. Trotzdem blieb die Nadel des Tachos dort, wo sie war. Ich stöhnte ungeduldig auf. »Wir hätten Marcus’ Auto behalten sollen.«
»Geduld. Wir haben es gleich geschafft.« Und ich werde bestimmt nicht schneller fahren, dachte Matthew und schaltete noch einen Gang herunter.
»Was hat Sophie noch mal über Nathaniels Fahrstil gesagt, als sie schwanger war? ›Er fährt wie eine alte Frau.‹«
»Stell dir vor, wie Nathaniel fahren würde, wenn er tatsächlich eine alte Frau wäre – viele Jahrhunderte alt – wie ich. Und so werde ich bis ans Ende meiner Tage fahren, wenn du in meinem Wagen sitzt.« Er griff wieder nach meiner Hand und führte sie an seine Lippen.
»Beide Hände ans Steuer, alte Frau«, ermahnte ich ihn ironisch, kurz bevor wir um die letzte Kurve bogen und nur noch ein gerader, von Walnussbäumen gesäumter Straßenabschnitt zwischen uns und dem Vorhof der Burg lag.
Beeil dich , bettelte ich ihn stumm an. Sobald das Dach von Matthews Turm in Sicht kam, klebte mein Blick darauf. Als der Wagen langsamer wurde, sah ich ihn verdutzt an.
»Sie erwarten uns bereits«, erklärte er mir und beugte sich zur Windschutzscheibe vor.
Sophie, Ysabeau und Sarah standen reglos auf der Straße.
Dämonin, Vampirin, Hexe – und noch ein Geschöpf. Ysabeau hielt ein Baby in den Armen. Ich konnte einen vollen braunen Haarschopf und pummelige Beinchen erkennen. Eine Kinderhand umklammerte eine Strähne von Ysabeaus Honiglocken, die andere reckte sich uns herrisch entgegen. Ich spürte ein leises, aber unverkennbares Kribbeln, als sich der Blick des Babys auf mich richtete. Sophies und Nathaniels Kind war eine Hexe, genau wie sie prophezeit hatte.
Ich löste den Sicherheitsgurt, riss die Tür auf und rannte schon die Straße entlang, bevor Matthew den Wagen auch nur zum Stehen gebracht hatte. Tränen strömten über mein Gesicht, und Sarah lief mir entgegen, um mich in die altvertrauten Vlies- und Flanellschichten zu schließen und mich mit dem Duft von Bilsenkraut und Vanille zu umhüllen.
Daheim , dachte ich.
»Ich bin so froh, dass ihr gesund zurückgekehrt seid«, sagte sie inbrünstig.
Ich beobachtete über Sarahs Schulter hinweg, wie Sophie das Kind behutsam aus Ysabeaus Armen nahm. Das Gesicht von Matthews Mutter wirkte unnahbar und bezaubernd wie eh und je, als sie das Kind abgab, aber die angespannten Mundwinkel verrieten, wie bewegt sie war. Diese angespannten Mundwinkel kannte ich von Matthew. Die beiden waren sich viel ähnlicher, als zu erwarten gewesen wäre, wenn man bedachte, wie Matthew zum Vampir geworden war.
Ich löste mich aus Sarahs Umarmung und wandte mich Ysabeau zu.
»Ich war nicht sicher, ob ihr zurückkommen würdet. Ihr wart so lange weg. Erst als Margaret unbedingt mit uns auf die Straße wollte, konnte ich wieder glauben, dass ihr vielleicht doch noch wohlbehalten zurückkehren würdet.« Ysabeau suchte mein Gesicht danach ab, ob ich ihr etwas verschwieg.
»Jetzt sind wir wieder da. Und bleiben hier.« Sie hatte in ihrem langen Leben genug Verluste erleiden müssen. Ich küsste sie erst auf die eine Wange, dann auf die andre.
» Bien«, murmelte sie erleichtert. »Wir sind alle froh, euch wieder hier zu haben – nicht nur Margaret.« Das Baby hörte seinen Namen und begann »D-d-d-d« zu singen und dabei mit den Ärmchen und Beinchen zu zappeln, als wollte es unbedingt zu mir. »Kluges Mädchen«, lobte Ysabeau sie und tätschelte erst Margarets und dann Sophies Kopf.
»Möchtest du deine Patentochter mal halten?«, fragte Sophie. Sie lächelte, aber in ihren Augen standen Tränen. Sie sah Susanna so ähnlich.
»Bitte«, sagte ich, nahm das Baby auf den Arm und gab Sophie
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