Wo die toten Kinder leben (German Edition)
Besuch antun. Dennoch wäre es für Sie vielleicht wichtig, wenn Sie genau verstehen würden, was Ihre Tochter zu dieser Tat trieb.“
„Da gibt es nichts zu verstehen.“ Seine Frau hatte sich eingeschaltet. „Haben Sie die Bilder gesehen? Haben Sie ihr die Bilder gezeigt?“ Sie wandte sich Wagner zu. „Sie haben ihr die Fotos doch gezeigt, nicht wahr? Das, was dort geschehen ist, ist mit menschlicher Logik nicht nachvollziehbar. Cornelia war ein fröhliches Kind. Wir haben ihr alles gegeben, was sie wollte. Sie war glücklich, sie war zufrieden…“ Frau Heinze stockte und rang sichtlich mit ihrer Fassung. Wesentlich leiser fuhr sie fort. „Dann, im letzten halben Jahr, hat sie sich verändert. Sie zog sich zurück. Und wenn man sie darauf ansprach, konnte sie nicht antworten. Sie wollte nicht antworten. …Na gut, wir haben beide gedacht, lassen wir ihr Zeit. Es ist eine Phase, die sie durchmacht. Sie wird wieder zu dem Menschen werden, den wir fast zwei Jahrzehnte kannten. Sie wird Vertrauen zu uns finden und wird uns von ihren Problemen und Schwierigkeiten erzählen. Verstehen Sie? Wir ließen ihr einfach Zeit. Vielleicht war das ein Fehler.“ Frau Heinze senkte ihren Kopf, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schluchzte trocken und unterdrückt auf.
Ihr Mann warf ihr einen kurzen Blick zu, das Gesicht voller Schmerz, und legte ihr seine Hand an die Schulter. Die nächsten Worte richtete er an Wagner. Sie glichen mehr einer Anklage: „Warum schleppen Sie uns überhaupt diese Frau hier an?“ - er wies auf mich - „ Zu Ihnen haben wir ja Vertrauen, Herr Wagner. Aber was wissen wir von dieser Person hier!“
Und an meine Adresse: „…Nichts gegen Sie, aber Sie müssen das verstehen. Sie sind ein wildfremder Mensch für uns. Wieso sollten wir Ihnen unsere Sorgen und Nöte offenbaren? Noch dazu, wo alles ohnehin vollkommen sinnlos ist. Unsere Cornelia lebt nicht mehr. Wir haben sie verloren. Für immer!“
Wagner rutschte unruhig auf dem Sofa neben mir herum und beugte sich schließlich nach vorne. „Frau Steinbach unterstützt mich bei meinen Untersuchungen. Sie hat in solchen Fällen sehr viel Erfahrung.“
„Was für Untersuchungen?“, brauste Herr Heinze auf.
„Herr Heinze“, Wagners Stimme hatte ihre Unsicherheit verloren. „Nicht nur Sie haben einen unsäglichen Verlust erlitten, sondern auch die Kirchengemeinde, von der Cornelia ein wichtiger Teil war. Die Diözese will einfach begreifen, was passiert ist. Wir wollen es verstehen, und dann, vielleicht, irgendwann, können wir mit der Sache abschließen - auch wenn uns die Trauer und das Leid nie verlassen werden.“
Herrn Heinzes Gesicht war rot angelaufen, während Wagner gesprochen hatte. Jetzt wurde es aschfahl, nur einige dunkle Flecke blieben zurück. Er kämpfte mühsam mit seiner Fassung. „In Ordnung, aber ich kann nicht sagen, wie lange ich das noch aushalten werde. Diese Befragungen, diese Unterstellungen. Wir haben das so satt!“
Ich versuchte eine Art Lächeln, aber ich weiß nicht, ob es mir richtig gelang. „Sie haben vorhin gemeint“, und ich sprach dabei direkt Frau Heinze an, „dass sich Ihre Tochter in den letzten Monaten verändert hat. Sie sagten, sie sei abwesend gewesen, verschlossen?“
„Ja“, bestätigte Frau Heinze leise. „Es kam ganz unvermittelt. Sie zog sich immer mehr zurück. Früher hatten wir stundenlang miteinander geredet. Nächtelang Probleme besprochen, Urlaube geplant, Geschenke…“ - Frau Heinze brach ab. „Sie müssen wissen, wir waren eine sehr glückliche Familie.“
„Das bezweifle ich nicht“, beeilte ich mich, ihr zu versichern. „Wie haben Sie sich das erklärt, die Veränderung bei Ihrer Tochter?
„Ich dachte, es wäre ein Zeichen, dass sie sich abnabelt, dass sie auf eigenen Beinen stehen will.“ Frau Heinze strich sich geistesabwesend über die Stirn. „Wir dachten, vielleicht sei sie verliebt. Wir dachten, vielleicht gäbe es da ein Problem. Sie wissen doch, wie diese Kinder heutzutage sind.“
„Nein“, sagte ich, „das weiß ich nicht. Können Sie mir das näher erklären?“
„Na man hört doch überall“, mischte sich Herr Heinze ein, „dass die erste feste Beziehung, …dass das junge Menschen vollkommen verändert.“
„Cornelia hatte also einen Freund?“
„Ja, das vermuten wir“, antwortete Herr Heinze.
„Wieso vermuten? Haben Sie ihn nie gesehen? Hat sie Ihnen den Freund denn nicht vorgestellt?“
„Nein.“ Diesmal antwortete Frau
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