Wo die toten Kinder leben (German Edition)
sprechen, als ein Handy klingelte. Ich hatte nicht erwartet, dass Wagner ein Mobiltelefon besaß. Aber tatsächlich zog er jetzt ein ultramodernes Smartphone aus einer seiner Jackentaschen und meldete sich. Er sprach nicht viel. Im Gegenteil, er sagte nur immer ja und hm und unterbrach den Anrufer zu keinem Zeitpunkt.
Nachdem er eine geraume Zeit auf diese Weise ins Handy gelauscht hatte, meldete er sich dann doch zu Wort. Er sagte „Ich glaube, wir kommen. …Frau Steinbach kommt mit. Das wird sie auch interessieren.“ Er drückte das Gespräch weg, behielt sein Smartphone aber in der Hand.
„Was ist los?“, fragte ich.
„Es hat einen weiteren… Vorfall gegeben“, antwortete er.
„Noch ein Vorfall ? Wollen Sie damit ausdrücken, noch jemand hat sich auf einen Holzstoß gesetzt und sich selbst angezündet?“
„Nicht direkt, aber etwas Ähnliches.“
„Wieder ein Selbstmord?“
Er nickte. „Es sieht ganz danach aus.“
„Wer hat Sie da gerade angerufen?“
„Das Dekanat. Es handelt sich um ein weiteres Mitglied aus unserer Diözese.“
„Oh!“, meinte ich. „Das ist aber ein ungesundes Klima, in dem Sie da leben.“
Wagner setzte zu einer Erwiderung an, holte stattdessen tief Luft und sagte nichts. Mittlerweile ärgerte mich das unheimlich, dieses Seine-Antwort-Verschlucken . Mir wäre es lieber gewesen, er hätte seine Gedanken offener dargelegt. So musste ich ihm alles einzeln aus der Nase ziehen und hatte dabei ständig das Gefühl, dass er mir mehr verschwieg, als er sagte. Als ob er mir nicht vertraute und deshalb nicht mitteilen wollte, was ihn wirklich bewegte.
Er nannte eine Adresse, ich gab sie in das Navi ein und wir änderten unseren Kurs. Wieder ging es ab von der Autobahn, wieder folgte Wald und dann erstreckten sich kleine, ordentlich bebaute Felder vor uns. Hügel ragten rechts und links auf. Graue Felsen wurden darauf sichtbar.
Nach ungefähr einer Viertelstunde passierten wir ein Dorf, verließen es und fuhren an den Ausläufern eines aufgelassenen Steinbruchs vorbei. Er hatte sich im Laufe der Zeit mit Grundwasser gefüllt und wurde in den Sommermonaten gerne als FKK-Badesee genutzt, weil er von der Straße nahezu uneinsehbar war.
Als wir um eine Kurve bogen, sahen wir Polizeiautos und zwei Krankenwagen. Beamte in Uniform und Zivil befanden sich auf dem Gelände und auch einige Sanitäter hatten sich daruntergemischt. Die Letzteren schienen mehr oder weniger gelangweilt zu sein. Ich wusste, was das bedeutete. Niemand benötigte ihre Hilfe. Das Opfer war tot.
Ich parkte den Wagen und wir stiegen aus. Ein älterer grauhaariger Mann, schwarzgekleidet, löste sich aus einer der Gruppen und kam auf uns zu. Ich merkte, wie sich Wagners Körper unwillkürlich straffte. Er nahm seine Schultern etwas zurück und für einen Augenblick atmete er hastiger, als gewöhnlich. Ganz klar – bei dem älteren Mann handelte es sich um einen Vorgesetzten.
Wagner wartete, bis uns der Grauhaarige fast erreicht hatte. Dann streckte er ihm die Hand entgegen. Der Grauhaarige nahm sie, um sie zu schütteln. Jetzt fiel mir auf, dass der ältere Mann auch einen weißen Kragen hatte. Schon wieder so ein Kleriker.
„Frau Steinbach, darf ich Ihnen Prälat Ott vorstellen?“, sagte Wagner.
Der Handschlag des Prälaten war fest und bestimmt. Das überraschte mich – er war ein eher schmächtig gebauter Mann.
„Schön, dass Sie kommen konnten, Frau Steinbach“, sagte Ott.
„Das Dekanat hat mich angerufen und wir sind sofort hierher gefahren, Eure Eminenz“, antwortete Wagner für mich.
„Sie kommen vom Ehepaar Heinze?“, fragte Ott.
„Ja“, diesmal gab ich Antwort.
„Und hier“, erkundigte sich Wagner, „was ist hier passiert?“
Ott verzog sein Gesicht zu einer nachdenklichen Miene. „Das ist schwer zu erklären, aber vielleicht können Sie sich selbst ein Bild machen.“
„Was ist mit der Polizei? Hat die nichts dagegen, wenn wir uns hier umsehen?“, warf Wagner ein, während er seine Umgebung angestrengt beobachtete.
Ott schüttelte den Kopf. „Ich habe bereits mit den Beamten gesprochen und Sie angekündigt. Sie dürfen.“
Wir folgten ihm zu einem der Krankenwagen. Davor stand eine Bahre und darauf lag ein zugedeckter Körper. Ich schlug das Laken zurück. Die Leiche war bis auf einen um die Hüften gewickelten hellen Stoff unbekleidet. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, musste sie schon länger im Wasser gelegen haben. Sie war stark aufgedunsen und die fleckig
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