Wo Tiger zu Hause sind
Jahren las er das Evangelium & seinen Plutarch im Original. Mit zwölfen gewann er haushoch alle öffentlichen Dispute in lateinischer Sprache, deklamierte wie kein Zweiter & verstand sich vortrefflichst auf die Abfassung von Stücken in Prosa wie in Versen.
Athanasius schätzte höchlich die Tragödie, & im Alter von dreizehn Jahren erhielt er in Anerkenntnis einer besonders gelungenen Übersetzung aus dem Hebräischen von seinem Vater die Erlaubnis, sich nach Aschaffenburg zu begeben, um mit seinen Schulkameraden einer Theateraufführung beizuwohnen: Eine wandernde Truppe gab den
Flavius Mauritius, Herrscher des Ostens
. Hans Kircher vertraute die kleine Schar der Obhut eines Bauern an, der mit seinem Karren in diese zwei Tagesmärsche entfernte Stadt aufbrach und die Knaben hernach wieder nach Hause begleiten sollte.
Athanasius begeisterte sich am Talent der Schauspieler & ihrer zaubrischen Befähigung, eine Figur, die er seit langem bewunderte, zum Leben zu erwecken. Vor seinen hingerissenen Augen schlug der tapfere Nachfolger des Tiberius auf der Bühne die Perser erneut mit Zorn & Gelärm, hielt Ansprachen an seine Truppen, jagte die Slawen und Avaren über die Donau und errichtete schließlich aufs Neue die Größe des Reichs. Und als im letzten Akt der treulose Phocas diesem beispielhaften Christen einen gräulichen Tod beschert & auch dessen Frau & Kinder nicht verschont, hätte nur wenig gefehlt, & die Menge hätte den bedauernswerten Schauspieler zerfetzt, der den verachtungswürdigen Zenturio verkörperte.
Mit aller Glut der Jugend wollte Athanasius dem Mauritius nacheifern, & als es nach Geisa zurückzukehren galt, weigerte sich der närrische Bube, mit seinen Freunden im Karren zu reisen. Vergebens versuchte der Bauer, der die Knaben fuhr, ihn zurückzuhalten: Nach einem ruhmreichend Tod trachtend & danach, der Tugend seines Vorbilds nachzueifern, hatte Athanasius Kircher beschlossen, ganz allein, wie ein antiker Held, den Spessart zu durchqueren, der wegen seiner Wegelagerer, doch auch der wilden Tiere wegen, die in ihm wüteten, traurige Berühmtheit genoss.
Keine zwei Stunden, und er hatte sich im Wald verirrt. Den ganzen restlichen Tag über suchte er nach der Straße, die er gekommen war, doch das Dickicht wurde immer schlimmer, & mit Schrecken sah er die Nacht nahen. Entsetzt von den aus der Dunkelheit steigenden Trugbildern, die seine Phantasie ihm eingab, verfluchte er den hirnlosen Stolz, der ihn in dieses Abenteuer getrieben hatte. Athanasius erstieg einen Baum, um sich wenigstens vor den Tieren zu bergen. So verbrachte er die Nacht, an einen Ast geklammert, von ganzer Seele zu Gott betend & zitternd vor Angst & Reue. Morgens schließlich, halb verhungert, mehr tot denn lebendig vor Müdigkeit & Angst, kämpfte er sich weiter durch den Forst. So irrte er bereits seit neun Stunden von Baum zu Baum, als das Dickicht sich lichtete und er auf eine weite Fläche hinaustrat. Freudenvoll erfrug Kircher bei einigen Ernteleuten, wo er sich befinde – sein Ziel lag immer noch zwei Tagsmärsche weit entfernt! Man wies ihm die rechte Richtung, versah ihn mit ein wenig Wegzehrung, & erst fünf Tage nach dem Aufbruch in Aschaffenburg erreichte er das heimatliche Geisa, zur großen Erleichterung von Vater und Mutter, die ihn allbereits verloren geglaubt hatten.
Die Nachsicht des Vaters war nun aber erschöpft, und so beschloss dieser, seinen Sohn zu weiteren Studien in das Jesuitenkloster nach Fulda zu schicken.
Dort herrschte freilich eine strengere Zucht als in der kleinen Schule von Geisa, doch waren die Magister fähiger & vermochten die Wissbegier des junge Kircher trefflich zu stillen. Auch war die Stadt selbst reich an Zeugnissen von Geschichte & Architektur, es gab die Michaeliskirche mit ihren beiden asymmetrischen Türmen & zuvorderst die Bibliothek, welche Hrabanus Maurus einst mit seinen eigenen Büchern begründet hatte & woselbst Athanasius jede freie Stunde verbrachte. Über die Werke Maurus’ hinaus, namentlich die Originalexemplare von
De Universo
und
De Laudibus Sanctae Crucis
, fanden sich hier allerlei rare Manuskripte, darunter das
Hildebrandslied
, der
Codex Ragyndrudis
, das
Panarion
des Epiphanos, die
Summa
des Guillaume d’Ockham & sogar ein Exemplar des
Hexenhammers
, das Athanasius nie ohne Schaudern öffnete.
Oft sprach er zu mir von diesem Buch, jedes Mal wenn er den Freund seiner Jugend erwähnte, Friedrich Spee von Langenfeld. Dieser junge Lehrer
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