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Wodka und Brot (German Edition)

Wodka und Brot (German Edition)

Titel: Wodka und Brot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mira Magén
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vernünftiger Mensch getan hätte. Gideon, mein Mann und der Vater des Jungen, hätte ohne zu zögern die Polizei gerufen, zum Besten der Allgemeinheit und der geschlagenen Fremden, und er hätte das Ereignis nach wenigen Sekunden aus seinem Gedächtnis gelöscht, weil es nicht gut war, sich mit Dingen zu belasten, die einen nichts angingen. Aber Gideon war nicht hier.
    Nadav drehte sich um und murmelte im Schlaf. Ich zog die Decke über seinen Nacken, und er reagierte nicht. Ich saß in dem Klappbett, das unter mir knarrte. Die Ruhe wurde nur kurz unterbrochen, dann war es wieder still. Der Himmel im Fenster war schwarz und zeigte nicht, wie lange es noch bis zum Morgen dauern würde, die Schatten der Möbelstücke waren wie Menschen, und das menschliche Bündel auf dem Küchenfußboden schien anzuschwellen und größer zu werden. Wäre Gideon bei mir, wären weiterhin Kiefernzapfen und Nadeln von den Bäumen gefallen, die Kiefernnadeln, und was in der Küche lag, wären nichts anderes gewesen als fünfundvierzig Kilo Armseligkeit, die man dem passenden Amt auszuhändigen hätte, dem Gesetz,dem Entzug, dem Sozialamt, der Krankenkasse, dem Gesundheitsamt, irgendeinem oder allen zusammen. Aber Gideon war nicht hier. Vier Monate lang fütterte er Fische im Roten Meer, und ich und der Junge waren hier.
    Ich fürchtete einzuschlafen, ich hatte Angst, die Ereignisse des Morgens würden ohne mich beginnen, ich wollte sehen, wie Nadav aufstand, ich wollte die Ausnüchterung der Besucherin bewachen, damit sie ihn nicht schnappen und sich in der Küche verbarrikadieren, ihm ein Messer an den Hals halten und drohen konnte, einen Flug nach Honolulu zu buchen oder den Jungen zu töten, wie Samson gesagt hatte: Meine Seele sterbe mit den Philistern. Ich hatte noch alles in der Hand, ich konnte die Polizei anrufen, ich konnte sie ins Wäldchen schleppen oder auf der Schwelle des Alten ablegen, als geheimnisvolles, rätselhaftes Geschenk. Ich hatte schon öfter Kisten mit fünfundvierzig Kilo Milchpackungen oder eingelegten Oliven geschleppt. Meine Armmuskeln waren kräftiger geworden, seit ich das Lebensmittelgeschäft übernommen hatte. Ich lag wach im Bett, die Nacht dämpfte die Formen, im Fenster vereinte sich die Dunkelheit drinnen mit der Dunkelheit draußen, meine Augen fanden nichts, woran sie sich festhalten konnten, und fielen zu.
    Nadav riss mich aus dem Schlaf. »Steh auf, steh auf, Papa ist gekommen.«
    »Bleib hier, das ist nicht Papa.«
    »Aber ich habe gehört, dass in der Küche …« Er war gekränkt und fragte, wer das sei, wenn nicht sein Vater, und warum ich heute Nacht neben ihm geschlafen hatte.
    »Komm«, sagte ich. Es war wirklich Morgen, die Vögel zankten sich auf dem Dach des Alten, der Hahn der Horowitzkrähte, und die Hunde bellten. »Komm.« Ich gab ihm die Hand und wir gingen in die Küche.
    Die Schnapsleiche der vergangenen Nacht saß vor dem Kühlschrank, schaute uns herausfordernd entgegen und sagte: »Los, nun ruf doch schon die Polizei.«
    Sie war blass und wild und hatte die Beine gespreizt, dazwischen war ein Dreieck des Fußbodens zu sehen, sie berührte mit dem einen Fuß das Tischbein, mit dem anderen den Kühlschrank, Walderde bröckelte von ihren Schuhen.
    Nadavs Hand klammerte sich an mein Kleid, das ich gestern getragen und in dem ich nachts geschlafen hatte. Er stand einen Schritt hinter mir und betrachtete die Besucherin.
    »Nun, worauf wartest du, nun ruf schon an«, stieß sie aus.
    Nadav zog noch fester an meinem Kleid.
    »Ich mache dir Kakao«, sagte ich zu ihm und hob erst den einen Fuß über den fremden Oberschenkel, dann den anderen. Sie bewegte sich nicht, gab kein Stück des Territoriums frei, das sie sich erobert hatte. Ihr Kiefer und ihr Kinn zeigten, dass sie schon einiges mitgemacht und überlebt hatte, aber vom Hals abwärts war sie ein Kind.
    »Willst du auch Kakao?«, fragte ich sie, vor allem wegen ihres Halses.
    »Lachst du mich aus?« Ihr Blick glitt über mich, traf meine Augen und hielt ihnen stand. Ich stellte Wasser für drei Tassen auf, wartete, dass es anfing zu kochen, und der Junge stand neben mir, hielt sich noch immer an meinem Kleid fest und starrte die Fremde an, die anders aussah als alles, was er kannte. Ich war mir nicht sicher, ob sie eine unterentwickelte Frau oder ein frühreifes Mädchen war, doch aus Mitleid bereitete ich ihr einen Kakao wie für den Jungen, sehr süß und mit einem Klacks Sahne, und stellteihr die Tasse zwischen die Füße.

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