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Wölfe und Kojoten

Wölfe und Kojoten

Titel: Wölfe und Kojoten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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mich
zu erinnern. Jahrelang war ich unzählige Male von San Francisco zu meinen
Eltern in San Diego auf dieser Strecke gefahren. Man kommt an Morgan Hill und
Gilroy vorbei, danach wird die Straße schmaler, und es kommen Kreuzungen. Und
dann folgte dieser Streckenabschnitt — ich wußte nicht mehr, ob vor oder nach
der Abzweigung nach Hollister und San Juan Bautista — mit den vielen
Eukalyptusbäumen auf dem Mittelstreifen zwischen beiden Richtungsfahrbahnen.
Fuhr man in nördlicher Richtung, gab es eine Ausfahrt, die links von
graffitibesprühten Findlingen gesäumt war, und rechts stand das Hinweisschild
für die Ravenswood Road. Eine landschaftlich schöne und abgelegene Gegend. Viel
war es nicht, an das ich mich erinnern konnte. Warum...?
    Ich faltete die Karte zusammen und
steckte sie in meine Handtasche. Dann entriegelte ich den Kofferraum. Nichts.
Noch einmal untersuchte ich Vorder- und Rücksitze, dann ging ich ins Büro
zurück. Fry stand noch immer hinter seinem Schreibtisch und starrte deprimiert
auf den Berg Papierkram. Ich gab ihm meine Karte und bat ihn, mich anzurufen,
falls sich der Mieter des beschädigten Wagens bei ihm meldete. Auf dem Weg zu
meinem MG versuchte ich, die Zeit zu schätzen, die ich bis zur Ravenswood Road
brauchen würde. Es war jetzt Viertel vor drei —
    Verdammt! Ich hatte die
Gesellschaftersitzung bei All Souls vergessen. Ich hatte Anwesenheitspflicht,
und mit Sicherheit würde ich mächtige Schwierigkeiten bekommen, wenn ich nicht
auftauchte. Also mußte ich in die City zurück und mich anschließend wieder,
mitten in der Rush-hour, in der Gegenrichtung nach San Jose durchkämpfen. Zu
dieser Jahreszeit war es wenigstens bis acht oder halb neun hell, ich würde
dort also noch etwas sehen können — falls es denn etwas zu sehen gab.
    Ich fuhr zum Highway 101 in nördlicher
Richtung.
     
     
     
     
     

2
    All Souls residiert in einem großen
viktorianischen Haus in Bernal Heights. Als ich ins Foyer stürmte, sah ich, daß
die Schiebetüren zum Aufenthaltsraum, in dem die wöchentlichen
Gesellschaftersitzungen stattfanden, geschlossen waren. Ted Smalley, unser
Büroleiter, sah von seinem Computer hoch und sagte: »Aspice quod felis
attraxit .«
    Ich seufzte. »Und das heißt...?«
    »Sieh dir an, was die Katze
hereingeschleppt hat.«
    Letztes Wochenende war Ted auf das
Prachtexemplar eines Buches von einem gewissen Henry Beard gestoßen, mit dem
Titel ›Latein für noch mehr Anlässe‹. Ted, eine seltsame Mischung aus
Renaissance-Mensch und Rationalisierungsfachmann, hatte das ganze Buch
auswendig gelernt und nun den Plan gefaßt, die einschlägigen Läden nach allen
weiteren Beard-Titeln zu durchforsten. Außerdem erwog er ernstlich, einen
Auffrischungskurs in dieser toten — oder doch nicht ganz so toten — Sprache zu
belegen. In letzter Zeit hatte ich mir Sorgen um ihn gemacht. Er schien sehr
deprimiert — was allerdings nicht verwunderlich war. Ted war homosexuell und
hatte im vergangenen Jahr wenigstens ein Dutzend Freunde durch Aids verloren.
Daher hatte ich mich über die Besserung seiner Stimmungslage gefreut. Sollte er
mich aber künftig jeden Morgen mit Sprüchen wie Expergiscere et coffeam
olface (»Erwache und freue dich am Duft des Kaffees‹) begrüßen, dann war
ich doch nicht so sicher, ob ich diese neue bizarre Leidenschaft lange ertragen
konnte.
    Ich zeigte auf die Tür. »Ich vermute,
man ist sauer über meine Verspätung.«
    Ted zuckte mit den Schultern.
    »Soll ich hineingehen?«
    »Hank sagte, sie würden dich rufen.
Falls du bei Gelegenheit auftauchen solltest.« Er wandte sich wieder seinem
Computer zu. Furchtbar, dachte ich. Die Aufforderung zur Teilnahme an der
Sitzung hatte ohnehin schon bedrohlich geklungen, und jetzt war ich obendrein
wegen Verspätung in Ungnade gefallen. Kein guter Eindruck für den Anfang. Und
wenn ich dann, den Kopf voller Sorgen wegen Hy, hineinging, würde ich alles nur
noch verschlimmern. Im Augenblick mußte ich also Hy unbedingt aus meinen
Gedanken verscheuchen. Vielleicht könnte mich eine Unterhaltung ablenken —
allerdings nicht auf lateinisch.
    Ich ging den Flur entlang zu dem
Verschlag unter der Treppe, der meiner Assistentin, Rae Kelleher, gehörte. Sie
saß an ihrem Schreibtisch, das eine Bein wie zum Schneidersitz hochgezogen,
während sie mit dem anderen auf dem Boden einen Rhythmus zu ihrem
Telefongespräch skandierte. Ich drängte mich an ihr vorbei und rollte mich in
den Armsessel zusammen und wartete.

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