Wofür es sich zu leben lohnt
: 21 f.), und die traurigen Resultate zeigen sich in den zeittypischen Artikeln etwa kulturwissenschaftlicher und kunsttheoretischer Zeitschriften, die von gebildeter Schwerfälligkeit aus den Nähten platzen. Wie für diese aktuelle Misere geschrieben erscheint eine Bemerkung Nietzsches:
»
Denken
lernen: man hat auf unsern Schulen keinen Begriff mehr davon […] Man lese deutsche Bücher: nicht mehr die entfernteste Erinnerung daran, daß es zum Denken einer Technik, eines Lehrplans, eines Willens zur Meisterschaft bedarf – daß Denken gelernt sein will, wie Tanzen gelernt sein will,
als
eine Art Tanzen […] Tanzen-können mit den Füßen, mit den Begriffen, mit den Worten: habe ich noch zu sagen, daß man es auch mit der
Feder
können muß – daß man
schreiben
lernen muß? – Aber an dieser Stelle würde ich deutschen Lesern vollkommen zum Rätsel werden …« (Nietzsche 1888 : 434 f.)
4 .
Jede Tätigkeit ist elend, solange man nicht weiß, wie man sie gut macht. Das gilt für das Wegwischen klebriger Flüssigkeiten ebenso wie für das Trösten verzweifelter Freunde. Sobald man aber eine Idee davon hat, wie sie gut zu machen ist, beginnt die Tätigkeit, Freude zu machen. Dazu muss man sie noch nicht einmal perfekt beherrschen. Die Freude stellt sich schon ein, wenn man sie so gut macht, wie man kann, und bemerkt, dass man sich dabei verbessert – so dass man Hoffnung hat, schon die nächste Bewegung werde um eine Spur geschickter sein als noch die letzte.
Die Literaturwissenschaftlerin Victoria Griffin hat in ihrer Studie »The Mistress« anhand literarischer Vorbilder die Rolle der Geliebten als ein Lebensmodell darzustellen versucht, für das es ein Ideal gibt. Die Beschreibung dieses Ideals erschien der Autorin notwendig, da sie aus Erfahrung wusste, dass es viele Frauen (wie auch Männer) gibt, die immer wieder dieses Modell leben, aber unglücklich werden, weil ihnen ein Ideal für ihr Leben fehlt und weil sie es darum etwa am Ideal der Ehegattin oder des Ehegatten messen, was sie unglücklich machen muss (s. Griffin 1999 : 3 ). Entsprechend der Bemerkung des Epikur werden Menschen unglücklich, wenn sie ihre Realität an »leeren Einbildungen« messen, die diesen Realitäten nicht entsprechen. [155] Das bedeutet aber nicht, dass man die Idealvorstellungen einfach tilgen könnte oder müsste. Wie Griffin richtig erkannt hat, ist es notwendig, für ein bestimmtes Leben jene Ideale herauszuarbeiten, an denen es zu messen sich lohnt. Idealmodelle sind für jedes Leben notwendig: erstens damit sich nicht ungeeignete, andere an ihre Stelle setzen, und zweitens, damit dieses Leben eine Chance bekommt, vom Glanz seiner entsprechenden Ideale getroffen zu werden.
5 .
»Es kommt immer zu einer Empfindung von Triumph, wenn etwas im Ich mit dem Ichideal zusammenfällt«, bemerkt Freud ([ 1921 c]: 122 ). Genau um diese Freude bringt eine Kultur die Individuen, wenn sie – in befreiender Absicht – jedes Ideal als »normativ« oder »normierend« diffamiert. Die Flut medialer Abbildungen von körperlicher Schönheit zum Beispiel, kann man immer wieder lesen, würde durch ihre Unerreichbarkeit die Individuen einschüchtern und dazu bringen, sich hässlich zu fühlen. In einem Bereich wie dem Sport aber verhält es sich auffälligerweise umgekehrt: Die immer häufigeren medialen Darstellungen fußballerischer Perfektion führen dazu, dass auch Hobbykicker sich angespornt fühlen, und so kann man heute in manchem Park Zehnjährige bei Tricks beobachten, die vor zehn Jahren vielleicht nur ein Zidane beherrscht haben mag.
Nun kann man Fußball vielleicht besser üben als Schönheit. Aber man sollte nicht vergessen, dass auch Letztere eine Rolle ist. Darum gilt auch hier die These des Epikur, wonach das Glück jederzeit leicht verfügbar ist. Denn eine Rolle ist für ein Publikum gemacht. Und zwar nicht nur für das wirkliche Publikum des Theaters, sondern vor allem für jenen naiven Blick, für den sogar das Publikum noch Publikum spielt. [156] Die Illusion ist dann gelungen, wenn sie so geschickt inszeniert wurde, dass jemand ihr hätte Glauben schenken können. Niemand von den Anwesenden muss es geglaubt haben, sondern nur dieser unsichtbare, naive Dritte, den sie, oft ohne es zu bemerken, voraussetzen. Darum ist es nicht wichtig, dass wir wirklich aussehen wie Liz Taylor oder Paul Newman; es genügt, dass wir uns einen Moment lang so anmutig verhalten, dass jemand es hätte glauben können. Dann
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