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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
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    Die großen Ferien waren vorbei. Trotzdem blieb der Sommer heiß. Sobald man aus dem Hausflur trat, umfing einen die Glut. Noch roch die Stadt verheißungsvoll – nach Unbekanntem, Abenteuer. Wir aber mussten wieder jeden Morgen, vom Wecker aus dem Bett gerissen, zur Schule gehen.
    Es blieb uns nichts als auf dem Schulweg Käfer von Ästen abzupflücken, sie auf die Handflächen zu setzen, zu streicheln und, indem wir den Zeigefinger für Momente über den Tierchen schweben ließen, zu sagen:
    »Siehst du, das ist der liebe Gott. Er hilft dir und er streichelt dich sanft. Jetzt kommt er, um dich besser zu beschützen.«
    Und dann zerquetschten wir – ein kurzes Knacken – die Käfer auf der Hand zu Mus.
    Kein schönes Spiel, aber den Jungen gefiel es, auch den meisten Mädchen. Und den Freunden zu gefallen war wichtig. Selbst wenn man sich heimlich vor verschmierten Käferresten auf den Händen ekelte.
    Wir waren die Ersten im großen, dunklen Schulgebäude. Die hohen Fenster beugten sich zu uns herab und doch drang wenig Licht ins Innere des Hauses. Wir mochten die noch leeren Flure, die sonderbare Ruhe, bevor der Lärm die Gänge füllt. Wir mochten den Geruch nach frischem Bohnerwachs, den Glanz, bevor die Schuhe ihn verschrammen. Wir wussten nicht, wieso, doch jeder von uns verstand den anderen, auch ohne dass wir redeten. Wir waren gute Freunde, und das zählte.
    Es war ein altes Schulgebäude, das hallte, wenn man darin lachte. Wir lachten eine Zeit lang, um dem Hallen noch einmal hinterherzulachen. Erst dann betraten wir – ein Pulk von sechs, vielleicht auch sieben – den Flur, an dessen Ende das Klassenzimmer lag. Alles war wie immer. Noch nicht einmal ein andrer Raum, in dem die Stunden zäh wie Leim an uns heruntertropfen würden, Tag für Tag.
    Ayfer drückte die Klassenzimmertür sanft auf. Und verharrte unterm Rahmen, war mit einem Mal ganz starr. Auch wenn wir nur ihren Rücken sehen konnten, wussten wir: Etwas hatte sich doch geändert. Etwas, das bedrohlich war, das zwischen dem Tanz der Schatten wartete, die die Blätter vor dem Fenster auf den Klassenboden warfen – das nicht einfach wartete, sondern vor uns lauerte: etwas, das das Sonnenlicht trüber werden ließ. Wir spürten es wie einen kalten Luftzug. Und als wir selbst ins Klassenzimmer schauten, da sahen wir zwei kahl geschorene Köpfe vorn in der ersten Reihe hocken und wussten gleich: Die zwei, die ohne Regung auf die geputzte Tafel starrten, waren anders, ängstigend, groß, sehr breit und kräftig.
    An sich war es verwunderlich, dass sie in unserer Klasse saßen. Denn zu uns kamen selten die, die man von andern Schulen des Bezirks verwiesen hatte: Randalierer, Autoknacker, Schüler, die den Lehrerinnen drohten – klick, ein kleines Messer: »Warte, nach der Schule …«
    Wir gingen zwar nicht auf ein Gymnasium, sondern auf die Gesamtschule, aber unsere Schule war besser als die meisten Gesamtschulen der Stadt. Wir hatten eine Oberstufe. Man konnte bei uns Abi machen. Auch wenn in allen Klassen bis zur Zehnten immer ein paar Schüler saßen, die dumm waren wie Brot: Unsere Schule hatte einen guten Ruf. Denn es gab bei uns Fächer, die es sonst nirgends gab. Wir waren keinesfalls der Abfalleimer des Bezirks.
    Nur weil in diesem Jahr die Gelder fehlten und in einigen Schulen Klassen zusammengelegt wurden, hatte man die beiden offenbar zu uns geschickt. Und deshalb saßen sie nun in der ersten Reihe: die Köpfe kahl rasiert, die Schädel auf gedrungenen Hälsen.
    Wir mussten uns nicht ansehen, um zu wissen, was wir dachten: Die zwei sind nicht nur Sitzenbleiber, sondern solche, denen man besser aus dem Weg geht.
    Ayfer zögerte. Es war ihr Platz und der von Sürel, wo jetzt die beiden Neuen saßen. Wir hörten Sürel schon im Flur. Es war leicht, ihn zu erkennen, denn er rannte. Rannte immer statt zu gehen. Immer so, als würde er, weil sein Körper zu weit vorn lag, stürzen, doch geschah das nie. Nur seine Füße eilten seinem Körper, egal wie schnell er ging, ein bisschen nach.
    Jeder von uns konnte sehen, wie sich Ayfer einen Ruck gab. Möglich, dass nur ich meine Hände, die schon schwitzten, zu verkrampften Fäusten ballte. Ich war schließlich auch der, der Ayfer ganz besonders mochte – obwohl das keiner wusste.
    Erst machte Ayfer einen Schritt, dann zwei, drei kurze Trippler. Tippte schließlich dem ersten Kahlkopf auf die Schulter, sagte: »Hallo.« Dann, als er nicht drauf reagierte: »Das ist mein Platz. Bitte steh

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