Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
25. April
Ich zittere, aber ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass gerade etwas Seltsames passiert, an dem, was ich geträumt habe, oder nur daran, dass ich in der Küche bin, weit weg vom warmen Ofen. Es ist 1:15 Uhr, wir haben Strom, und ich schreibe zum ersten Mal seit Wochen wieder Tagebuch.
Ich habe von der kleinen Rachel geträumt. Ich träume oft von ihr, meiner Halbschwester, die ich noch nie gesehen habe. Dabei weiß ich nicht einmal, ob Lisa ein Mädchen oder einen Jungen bekommen hat. Seit sie auf ihrem Weg nach Westen bei uns vorbeigekommen sind, haben wir bis auf ein, zwei Briefe nichts mehr von Dad und Lisa gehört. Was immer noch mehr ist, als ich von allen anderen gehört habe, die weggegangen sind.
In meinem Traum war Rachel schon ungefähr fünf, was natürlich nicht sein kann. Aber sie hat eh in jedem Traum ein anderes Alter, deshalb hat mich das nicht gestört. Sie lag in ihr Bett gekuschelt, während ich ihr eine Gutenachtgeschichte vorgelesen habe. Ich weiß noch, wie ich dachte, was für ein Glück sie hat, ein eigenes Zimmer zu haben und nicht, wie ich, seit Monaten mit Mom, Matt und Jon im Wintergarten schlafen zu müssen.
Dann ging im Traum das Licht aus. Rachel wollte wissen, warum.
»Das liegt am Mond«, sagte ich.
Sie kicherte. So ein richtiges Kleinmädchenkichern. »Wie kann denn der Mond das Licht ausgehen lassen?«, fragte sie.
Und so erzählte ich es ihr. Alles. Ich erklärte ihr, dass im Mai ein Asteroid auf dem Mond eingeschlagen ist und ihn dabei ein bisschen näher an die Erde herangeschoben hat. Wie sich dann die Anziehungskraft des Mondes vergrößert hat und dadurch alles anders geworden ist. Es gab Flutwellen, die ganze Städte weggespült haben, Erdbeben, die die Highways zerstört haben, und Vulkanausbrüche, durch die so viel Asche in den Himmel geschleudert wurde, dass kein Sonnenlicht mehr durchkommt. Das hat Hungersnöte und Seuchen verursacht. Und alles nur, weil der Mond jetzt etwas mehr Anziehungskraft besitzt als vorher.
»Was ist Sonnenlicht?«, fragte Rachel.
An diesem Punkt wurde der Traum zum Albtraum. Ich wollte ihr das Sonnenlicht beschreiben. Doch ich konnte mich plötzlich nicht mehr erinnern, wie der Himmel ausgesehen hatte, bevor er von den Aschewolken verdeckt wurde. Ich wusste nicht mehr, wie blauer Himmel und grünes Gras und gelber Löwenzahn aussahen. Die Worte – Grün, Gelb, Blau – waren noch in meinem Kopf, aber hätte man mir eine Farbtafel vorgehalten, hätte ich bestimmt Rot mit Blau und Lila mit Gelb verwechselt.
Die einzige Farbe, die ich noch kenne, ist Grau. Grau wie die Asche, der Schmutz und die Trauer.
Noch kein Jahr ist es her, seit das alles passiert ist. Kein Jahr, seit Hunger, Dunkelheit und Tod zum Alltag geworden sind. Und trotzdem konnte ich mich schon nicht mehr erinnern, wie die Welt – die Welt, wie ich sie kannte – ausgesehen hat. Ich hatte vergessen, wie Blau aussieht.
Hier lag also die kleine Rachel, die gar nicht mehr so klein war, in ihrem Kleinmädchenzimmer und fragte mich nach all diesen Dingen. Und als ich sie ansah, war sie plötzlich nicht mehr die kleine Rachel, sondern ich selbst. Nicht mit fünf Jahren, sondern vor einem Jahr. Ich dachte: Das kann nicht sein. Ich sitze doch hier auf dem Bett und erzähle meiner Halbschwester eine Gutenachtgeschichte. Ich stand auf (ich glaube, das war alles noch derselbe Traum. Aber vielleicht waren es auch zwei verschiedene, die ich miteinander vermischt habe) und kam an einem Spiegel vorbei. Ich schaute hinein, um zu sehen, ob ich wirklich ich war. Stattdessen sah ich aus wie Mrs Nesbitt, als ich sie letzten Herbst tot in ihrem Bett gefunden hatte. Ich sah aus wie eine alte Frau. Eine tote alte Frau.
Wahrscheinlich waren es doch zwei verschiedene Träume, denn nach dem Teil, wo ich aufgestanden bin, kam die kleine Rachel nicht mehr darin vor. Nicht, dass das irgendwie wichtig wäre. Nichts ist mehr wirklich wichtig. Was macht es schon, dass ich mir keinen blauen Himmel mehr vorstellen kann? Ich werde ihn sowieso nie wieder sehen. Ebenso wenig wie gelben Löwenzahn und grünes Gras. Niemand wird das, nirgendwo auf der Erde. Keiner von uns – von denen, die das Glück haben, wenigstens noch am Leben zu sein – wird jemals wieder die Wärme der Sonnenstrahlen spüren. Dafür hat der Mond gesorgt.
Aber so schrecklich diese Träume auch waren, sie hatten mich nicht geweckt. Sondern ein Geräusch.
Zuerst konnte ich es nicht einordnen. Ich wusste, dass ich es
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